Musiklexikon: K wie Kanon
Im Kanon zu singen lernten wir im Kindergarten. Zum Beispiel den Ring-, Kreis- oder Zirkelkanon „Oh, wie wohl ist mir am Abend“, den Thomas Mann freundlicherweise in seinem Roman „Doktor Faustus“ für uns analysiert hat. Aber Achtung: Wenn man diesen Kanon zu schlampig singt, stottert sich leicht etwas zusammen, das an die Stadionversion der Deutschlandhymne erinnert. Einst in der Renaissance nahm man sich sogar noch die Zeit, höchst komplizierte Kanonformen zu ersinnen, bei denen mehrere Melodien ineinander verschränkt werden (Doppel-, Tripel-, Quadrupelkanon) oder eine Melodie der Krebs oder die Umkehrung der anderen ist (Krebskanon, Spiegelkanon, Spiegelkrebskanon). Auch Johann Sebastian Bach bastelte gerne an Kanons, etwa für die Goldberg-Variationen, das Musikalische Opfer oder Die Kunst der Fuge. Dabei hat er die zweite Stimme meist transponiert („Canone alla Terza“, „Canone alla Quarta“) oder ein wenig verändert; wenn er die Zügel noch etwas weiter schießen ließ, nannte er es hinterher „Fuge“.
Später allerdings hat man solche mathematischen Spielereien eher belächelt, weshalb sie dann im Kindergarten landeten. Erst Schönberg oder Hindemith entdeckten wieder den Spaß am Kanonstricken. Dem modernen Technik-Zeitalter angepasst wurde der Kanon endlich von dem amerikanischen Komponisten Conlon Nancarrow (1912-1997). In dessen Hochgeschwindigkeits-Kanons erklingen die Einzelstimmen in irrationalen Tempo-Proportionen zueinander, beschleunigen oder bremsen ab, erzeugen klappernde Phasenverschiebungen und stecken in ständigen Überholmanövern wie beim Formel-Eins-Rennen. Auch werden ganze Kanons da wiederum zu Super-Kanons verflochten. Natürlich ist das von normalen Musikern gar nicht mehr zu bewältigen: Nancarrow, dem noch kein Computer zur Verfügung stand, bediente sich eines automatischen Klaviers, das mit gestanzten Papierrollen gespeist wird. Gestanzt hat er übrigens selbst, 40 Jahre lang. Ein Leben für den Kanon.