Musiklexikon: P wie Play Bach

Eremitage, 1995
In den restaurativen Jahren nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs haben viele Menschen in der Musik von Johann Sebastian Bach neuen Halt und Glauben gesucht. Die Frömmigkeit und Festlichkeit des „Thomaskantors“ wurde so sehr in Anspruch genommen, dass der Philosoph Adorno sich schon 1951 veranlasst fand, Bach „gegen seine Liebhaber zu verteidigen“. Einen erfrischend anderen Zugang zu Bachs Musik entwickelte dagegen der moderne Jazz. Kleine Kanons, Fugen, Suiten oder Variationen waren für die Musiker des Cool Jazz, Third Stream und Westcoast Jazz in den Fünfzigerjahren tägliches Spielzeug. Man sah in Bachs Ad-libitum-Instrumentierung, seiner Variationstechnik und der Generalbass-Notation mit improvisierender Ausgestaltung lauter Vorboten und Parallelen zur Jazz-Praxis. Aber vor allem war es der motorische Puls in Bachs Musik, der geradewegs zum swingenden „Verjazzen“ einlud.

Decca, 1970

London, 1971
Zum erfolgreichsten Bach-Verjazzer wurde der französische Pianist Jacques Loussier. Während seines klassischen Studiums am Pariser Konservatorium (bei Yves Nat) entdeckte er, dass viele amerikanische Jazzpianisten eine Schwäche für Bach besaßen. Er selbst hatte schon als Kind angefangen, mit den Parametern von Bachs Stücken herumzuspielen. Ab 1959 präsentierte Loussier im Jazztrio mit Kontrabass und Schlagzeug seine Strategie „Play Bach“. Dabei spielte der Pianist wichtige Melodieteile eines Bachstücks möglichst originalgetreu, ersetzte aber andere Abschnitte durch Jazz-Improvisation. „Ich schreibe mir zuerst die Basslinie des ganzen Stücks auf – und dann suche ich mir die Stellen heraus, die sich für Improvisationen eignen“, sagt Loussier. „Es gibt diese Ähnlichkeit zwischen dem Generalbass in der Barockmusik und den Basslinien im Jazz. Auch in der Struktur der Werke: Bei Bach ist ein Thema meistens exakt acht, 16 oder 32 Takte lang, das ist beim Grundmodell der Jazz-Improvisation sehr ähnlich. Ich habe schon immer gesagt: Bach war der erste Jazzmusiker der Welt.“

London, 1967