Musiklexikon: R wie Raga
Ravi Shankar, der berühmte Sitarspieler, der die klassische nordindische Musik im Westen bekannt machte, schuf in seinem mehr als 90-jährigen Leben rund 30 Ragas. Insgesamt gibt es wohl einige Zehntausend davon. Was genau ein Raga ist, lässt sich mit westlicher Musikterminologie nur schwer beschreiben. Ein Raga ist mehr als nur eine Tonleiter, aber er ist keine Komposition.
Ein Raga legt vielmehr eine bestimmte Art und Weise fest, wie mit einem Tonmaterial umgegangen werden soll: ein melodisches Grundmuster, eine Richtlinie, eine Färbung – vergleichbar dem altgriechischen Nomos oder dem arabischen Maqam.

Technisch gibt der Raga zum Beispiel an, mit welchen Besonderheiten – Grundtönen, Übergängen, Tonfolgen, Betonungen, Haltetönen usw. – eine gegebene Tonskala aufsteigend und mit welchen Besonderheiten sie absteigend gespielt werden soll. Mit dieser Tonleiter-Interpretation verbindet sich aber gleichzeitig eine bestimmte emotionale Haltung. Diese spirituelle Komponente des Ragas kann die Stimmung einer Tages- oder Jahreszeit sein oder eine innere Empfindung wie Friedfertigkeit, Zorn, Humor oder Heroismus.

Die Interpretation eines Ragas zieht sich manchmal einen halben Tag lang hin. Schon die Einleitung (Alap), die die „Themen“ vorstellt und den Zuhörern die richtige emotionale Einstimmung vermittelt, kann Stunden dauern. Danach schließen sich verschiedene Durchführungs-Teile an – ohne Trommelbegleitung oder mit Trommelbegleitung, auch Soli oder Wechselspiele –, in denen der Raga unablässig variiert und vertieft wird. Dabei kann sich das Tempo bis ins Ekstatische steigern. Die große Kunst der Musiker besteht darin, dem einmal vorgegebenen melodischen Material, das verbindlich ist, immer neue Facetten abzugewinnen. Es soll bei jeder Raga-Aufführung „frisch“ und überraschend wirken, ohne dass dabei die Regeln gebrochen werden. „95 Prozent ist Improvisation“, sagte Ravi Shankar einmal.

EMI, 1970