Musiklexikon: T wie Tatum

Verve, 1999
Er war praktisch blind, aber das hinderte Art Tatum (1909–1956) nicht daran, völlig neue Maßstäbe für virtuoses Jazzklavier zu setzen. Mit 16 war er bereits der Pianist einer der professionellsten Jazzbands der Zeit, McKinney’s Cotton Pickers. Mit 19 hatte er seine ersten Radio-Auftritte. Er ging keinem musikalischen Wettstreit aus dem Weg – und aus jedem als Sieger hervor. Dennoch liebten ihn die Kollegen – ja, sie vergötterten ihn als ihren Meister. Als Tatum einmal zu einer Jamsession kam, rief Fats Waller, der auch nicht gerade für lahme Finger bekannt war: „Ich spiele hier nur Klavier, aber jetzt kommt Gott in unser Haus!“ Andere Klavierkollegen nannten Tatum „das achte Weltwunder“ oder „die Bibel des Jazzpianos“. Auch klassische Tastenkünstler wie Gieseking, Horowitz, Paderewski und Rachmaninow äußerten sich beeindruckt und ungläubig. Von seiner ersten Begegnung mit Tatums Können war mancher Jazzmusiker sogar so erschüttert, dass er in eine ernsthafte Krise fiel. Selbst ein Coleman Hawkins oder Oscar Peterson haben sich nach ihrem Tatum-Erlebnis einen künstlerischen Neustart verordnet.


Past Perfect, 2001
Art Tatum hatte zwei unglaublich schnelle Hände. Zusammen schufen sie einen fast undurchdringlichen Dschungel aus Melodie, Kontrapunkt, Harmonie und Rhythmus – einen „großartigen Schwall von Klaviertönen“, wie der Kritiker Benny Green in britischem Understatement schrieb. Manchmal klang Tatums Spiel wie eine Jamsession von drei Pianisten gleichzeitig. Wollte er seine Klavierkollegen ärgern, setzte er sich auf seine linke Hand – und spielte die Konkurrenten allein mit der rechten in Grund und Boden. Berüchtigt war auch seine überschäumende, flexible Harmonik, die mit Chopin und Debussy und selbst Leoncavallo gespickt war und zuweilen unberechenbare Wege ging. Tatum nahm sich quantitativ nie zurück, selbst dann nicht, wenn ein anderer solierte. Der Kritiker Alun Morgan glaubt, Tatum habe seinen überreichen Stil entwickelt, um schnell und sicher die Register wechseln zu können – ohne Augenlicht.