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Steven Wilson - Luminal

Steven Wilson – Luminol

Longtrack, 2012

Steven Wilson – Luminol

Zum Progrock gehören Tempowechsel, Klassik- und Jazzanklänge, umfangreiche Instrumentalteile und überraschende Instrumente. Weil das alles zusammen kaum in einen Drei-Minuten-Song passt, gibt es den Longtrack.

Steven Wilson war mit seiner Live-Band von 2012 so glücklich, dass er mit ihr auch sein nächstes Studioalbum einspielte. In einem Interview beschrieb er sich als den Kapitän eines verlässlichen Teams, dem er nicht mehr viel erklären müsse und auf dessen kreative Beiträge er zählen könne. Seine neuen Stücke hat er diesen Musikern dann quasi auf den Leib geschrieben, Musikern übrigens, die locker die Grenzen zwischen Rock und Jazz übersprangen – so wie das auch in den Anfängen der progressiven Rockmusik einmal war. „Das machte es damals so speziell. Ich wollte daher auch mehr Jazz in meiner Musik haben“, erklärte Wilson. Theo Travis, sein Bläser, bestätigt das: „Steven hat öffentlich erklärt, er wolle mit seiner Band das nervöse Jazz-Element in den Prog zurückholen.“ Das Album The Raven That Refused To Sing wurde auf Anhieb ein Progrock-Klassiker.

Steven Wilson - Luminal

Man bescheinigt Wilson gelegentlich einen gewissen Hang zum Düsteren und Melancholischen. 2012 beschäftigte er sich gerade mit alten Spuk- und Schauergeschichten, etwa M.R. James’ „Oh, Whistle, and I’ll Come to You, My Lad“ von 1904. Solche Lektüre hat ihn inspiriert, selbst ein paar „Gothic stories“ zu schreiben. Die erste, nur zwei Absätze lang, war angeregt von einem Straßenmusiker in Wilsons Heimatstadt: „Egal, wie das Wetter ist, er ist immer da, spielt seine akustische Gitarre und singt diese Songs.“ Ein miserabler Musiker sei dieser Straßenkünstler, sagte Wilson, er werde kaum beachtet, sei eine Art „Straßenmöbelstück“ – man könne sich überhaupt nicht vorstellen, dass er eines Tages verschwinde. Wahrscheinlich werde er auch nach seinem Tod noch weiterhin als Geist auf der Straße singen. Und wer weiß – vielleicht sei er ja längst ein Geist?

Aus dieser ersten Geisterstory entstand der Song „Luminol“ (12:10). (Luminol heißt eine Chemikalie, die in der Forensik verwendet wird.) Ein einfacher „Song“ ist „Luminol“ eigentlich nur zwei Minuten lang (4:25 und 6:25) – da trägt Wilson zwei Strophen vor, begleitet von der Rhythmusgitarre. Der Songtext verschleiert die Geistergeschichte eher, als dass er sie erzählt. Nach der ersten Strophe setzen Schlagzeug und Flöte ein, nach der zweiten übernimmt das Mellotron. Beide Momente erinnern stark an die frühen King Crimson. Kein Wunder: Von 2009 bis 2012 hat Wilson nicht weniger als acht (!) alte Crimson-Alben remixt.

Mitreißend und unvergesslich ist der Anfang. Eine Stakkatofigur des Schlagzeugs (Marco Minnemann) wird zum Leitsignal des Stücks. Über einer starken, zunächst dominanten Bassfigur (Nick Beggs) bauen sich eine Reihe von Themen, Akkordfolgen, Improvisationen auf. Zwischendurch erklingt ein kurzer Harmoniegesang, nur ein paar Worte – aber es geht darin um letzte Dinge. Dann gibt es auch einen Bass-Break, ein Schlagzeugsolo und schließlich (ab 2:32) eine Keyboard-Improvisation (Adam Holzman). Dieser grandiose, angejazzte Anfangsteil wird erst am Ende von „Luminol“ (ab 8:30) wieder aufgegriffen. Zum mächtigen Mellotron tritt dann ein wortloser Harmoniegesang, eine Klavierfigur, es kehren die Themen und Akkorde vom Anfang wieder, der Gitarrist (Guthrie Govan) darf etwas ausholen, das Ganze wächst zum crimsonesken Bombast.

Fehlt noch der Abschnitt zwischen dem sanften Songteil und dem bravourösen Schlussteil – aber der dauert nur eineinhalb Minuten. Im Mittelpunkt steht hier noch einmal der Keyboarder, der ein fast altmodisches, angejazztes Klaviersolo improvisiert. Es verebbt in Mellotron- und Flötenklängen.

www.stevenwilsonhq.com

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