Professor P.’s Rhythm&Soul Revue
Der Professor lässt sich von Nostalgie übermannen und trocknet Tränen der Rührung unter dem Genuss neuer – und alter – Musik von Snooks Eaglin, The Dawn Brothers, Beabadoobee, Marcus Trummer und Elles Bailey.
Ein schwüler Abend im alten Jahrtausend. Die Luft ist heiß, feucht und stickig, selbst den Kakerlaken brennt der Schweiß in den Augen. Das Bier aber, das ist so kalt, wie es nur geht. Eine Notwendigkeit im subtropischen New Orleans im tiefsten Süden, wo Tag um Tag in Zeitlupe verstreicht und die Menschen im unverständlichen N’awlins-Drawl miteinander sprechen, einfach zu anstrengend, vollständige Worte über die Lippen zu wuchten. Das eiskalte Bier, man muss es schnell in die Kehle kippen, sonst betteln die Zähne um Vergebung und der Gaumen erleidet Gefrierbrand. Es ist gerade Pause. Eine Vorband packt ihre Instrumente ein, gleich soll es mit dem Hauptact losgehen. Im Hintergrund schubsen Dudes mit Cowboyhüten – Texas ist ja nicht weit – Bowlingkugeln über glänzend polierte Bahnen. Das „Rock’n’Bowl“ ist seit drei halben Ewigkeiten eine Institution am Mississippi, so nah am brackigen, gelangweilt dahinmäandernden Fluss, wie ein Alligator spucken kann. Man bietet Bowlingbahn und Konzertclub in einem, was eine einzigartige Klanganarchie aus Bluesakkorden, Cajun-Violine, Zydeco-Akkordeon und kakofonisch kollidierenden Bowlingkegeln erzeugt. Die Musiker der gleich aufspielenden Band versorgen sich am Tresen noch mit südpolfrischem Bud, ich geh meins entsorgen. Stehe dann also an der Pinkelrinne, zwei Männer kommen herein. Der eine ist der Bassist, ein großer Mann, der eben noch beim Soundcheck einen überraschend sanftmütigen Sound mit seinem Instrument erzeugte. Sein Name ist George Porter Jr., eine Legende im Süden, Mitbegründer der Funk-Pioniere The Meters. Er hat, wie ich aus den Augenwinkeln sehe, seine kräftige Hand auf der fragil wirkenden Schulter eines kleinen, gebeugt stehenden Mannes liegen: Auf der von Snooks Eaglin, dem blinden Bluesgitarristen, der in jungen Jahren auch wegen seines gefühlvollen Gesangs „Little Ray Charles“ gerufen wurde. Wegen ihm bin ich auf der Bowlingbahn. Ein Mann, von der untersetzten Statur einem abnehmenden Halbmond gleich, ein nie versagendes Lächeln im Gesicht, ein Großmeister des Südstaatensouls, der in wenigen Minuten auf die Bühne geleitet werden soll, auf einem Stuhl Platz nehmen und die Gitarre in ungewöhnlicher Griffhaltung auf dem Schoß aufschreien lassen wird. Snooks Eaglin wird mit seinem seit den fünfziger Jahren praktizierten, unkonventionellen Funk-Rock’n’Roll das Publikum zum Tanzen bringen, und Professor P. wird mittendrin glückseligst Fassung und Fasson verlieren. Aber diese Momente mit der Legende am Pissoir, die Sonnenbrille im alten Gesicht, kurz vorm Gig in der Bowlingbahn, während aus dreierlei Richtung Pipi plätschert: eine seltsame Minute in meinem Leben, vielleicht die seltsamste.
Warum erzähle ich Euch das? Weil ich – oral history – die Vergangenheit nicht ruhen lassen mag. Ich las gerade ein Buch des vor zwei Jahren verstorbenen Schweizer Autors Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon. Darin fand ich die interessante Theorie, dass Vergangenes nie wirklich vergangen ist. Dass man in Gedanken in ferne, einst vertraute Zeiten zurückreist und diese so wieder in die Gegenwart holt und damit, in einem dezent philosophischen Sinne, tatsächlich wieder dort ist. Snooks Eaglin, 2009 verarmt an einem Herzinfarkt gestorben, weilt nicht mehr in vielen Gedankenwelten, fürchte ich. Das darf nicht sein. Also nehme ich mir die Freiheit und führe eine neue Subsparte von Prof. P.’s Rhythm and Soul Revue ein: Prof. P.’s Retro-Show. Hie und da also werde ich mir ein Album aus des Professors Spezialitätenabteilung schnappen und Euch Musik nahebringen, mit der Ihr vermutlich nirgendwo sonst in Kontakt kommen würdet. Here we go!
Snooks Eaglin – The Complete Imperial Recordings
Ein leicht schräger Gitarrenakkord – und schon befinden wir uns im New Orleans der fünfziger Jahre. Und, so viel Zeit muss sein, in Prof. P’s Retro-Show, herzlich willkommen! Korrekterweise aber muss ich präzisieren: im Kalifornien der frühen sechziger Jahre. Denn dort nahm Snooks Eaglin, 1936 im amerikanischen Atlantis am Mississippi geboren, zeitlebens wohl kaum einmal länger als eine Woche weg vom Ol’ Man River, um 1962 herum 26 Songs in den Studios von Imperial Records auf. Das unabhängige Label war, bis es 1964 erst geschluckt und 1971 eingestellt wurde, eine Art Westküsten-Outlet für den pulsierenden Rock’n’Roll, der in New Orleans mit Jazz und frühesten Funk-Versuchen zu einem schon damals einzigartigen Groove-Gumbo zusammengekocht wurde. Fats Domino nahm hier auf, Earl King, der sanfte Bluessänger Tommy Ridgley – und eben Snooks Eaglin, einer der wichtigen Pioniere des Rock’n’Roll, den nur heute leider kaum einer mehr kennt. Aber genau das ist Sinn, Zweck und Verantwortung von Prof. P.’s Retro-Show: alte Meister noch einmal zu würdigen in Zeiten, da mittelprächtig begabte KI-Algorithmen die Playlists des Publikums bestimmen. Dieser schräge Gitarrenakkord also: Damit läutet Eaglin „Yours Truly“ ein, eine swingende kleine Rock’n’Roll-Miniatur. Die Stimme sehr nah an Ray Charles, man nannte den ebenfalls blinden Sänger nicht ohne Grund „Little Ray Charles“, die Gitarre im typischen, gut gelaunt groovenden Fast-Forward-Style, den sich der kleine Snooks einst am Radio selbst beigebracht hatte. Songs wie „Guess Who“ oder das bereits 1924 erstmals von Ma Rainey eingespielte „C.C. Rider“ zeigen Snooks Eaglins Leidenschaft für melodramatisch-melancholische Groove-Balladen. Songs wie „Down Yonder (We Go Balling)“, später unter anderem auch von Shakin’ Stevens in die Neuzeit herübergerettet, deuten schon an, wo Snooks Eaglin später herumreiste: in den freigeistigen Gefilden des frühen Funks, wobei der blinde Gitarrist unterstützt wird von einer eingespielten Mannschaft, unter anderem haut in den Imperial Studios der legendäre und viel zu früh am Heroinrausch zugrunde gegangene James Booker in die Tasten. Nun, having said that: Der Professor schnipst sich gerade eine Träne der Rührung aus dem Knopfloch, da halb vergessene Bilder von jenem schwülen Abend im „Rock’n’Bowl“ an die Oberfläche des Bewusstseins drängen. An der Pinkelrinne mit Snooks Eaglin. Das Konzert, bei dem er auf einem Hocker kauerte und fast alle 2500 Songs seines Repertoires zum Besten gab. Sein fröhliches, keckes Kichern, mit dem er jeden Song einführte … Those were the days, my friends.
Label: Capitol Records
Format: CD
PS: The Complete Imperial Recordings erschien 1995 als CD. Die ist heute neu nicht mehr erhältlich, aber bei Onlinehändlern wie Discogs für rund 15 Euro zu haben. 2020 kam ein Teil der Aufnahmen – nur 12 Songs – erneut heraus, diesmal auf Vinyl als The Imperial Recordings, Vol. 1 auf dem Label Naked Lunch. Diese Version ist neu für ca. 32 Euro im Handel.
The Dawn Brothers – Cry Alone
Und schon lassen wir Prof. P.’s Retro-Show hinter uns, wünschen dem Geist von Snooks Eaglin weiterhin eine gute Reise durchs Nirwana, tauchen ein in die vertraute Welt von Prof. P.’s Rhythm and Soul Revue und schauen auf die Gegenwart, die alte Hexe. Weil man aber im Hier und Jetzt derzeit verzweifeln mag, da zum Beispiel diskutiert wird, die sicher nicht von Glück und Frohsinn begünstigte Bevölkerung des Gazastreifens nach Grönland umzusiedeln, machen wir uns die Welt, widdewidde wie sie uns gefällt, und opponieren gegen den Gigantoschwachsinn durch den Konsum von Offbeatkultur in Kombination mit ritueller Kräuterverbrennung und tanzen auf dem Rand des Vulkans, bis uns die Lava aus den Ohren quillt. Ergreift die Hand Eures Nebenmenschen, wo immer Ihr auch gerade weilt, reiht Euch ein, Freunde, zum postmodernen Ringelpiez. Hier habe ich dafür den geeigneten Soundtrack: Das neue Album der Dawn Brothers aus Rotterdam. Das Quartett habe ich Euch schon vor fünfeinhalb Ewigkeiten anlässlich ihres Debüts Staying Out Late vorgestellt, das sie im Dunstkreis des ebenfalls in Holland heimischen Psychedelic-Rock-Trios DeWolff aufgenommen hatten – und an dieser Stelle baue ich mal, ganz ungewohnt mittendrin, einen Cliffhanger ein: In der kommenden Ausgabe von FIDELITY wird der Professor von seiner Reise nach Amsterdam berichten, in deren Verlauf man DeWolff im prachtvollsten Konzertsaal des Landes erlebte und sich dabei aber fast mit einem Klotschen tragenden Rotweintrinker prügelte, aus Gründen … Well, stay tuned. Die Dawn Brothers also: Das ist so eine Art Reinkarnation von Bob Dylans alter Begleitband The Band, und so ähnlich wie „The Night They Drove Old Dixie Down“ klingt der Grachten-Groove auch: Warme, weiche Arrangements, melodischer Americana-Folk mit Blues- und Soul-Elementen, einfach gute Musik, wenn ich das mal so banal sagen darf. Bassist und Gitarrist singen abwechselnd, und das wiederum klingt dann wie bei Tom Petty („Can’t Let You In, Can’t Let You Out“), wie bei Golden Earring („Do Me Wrong“), für die die jungen Menschen aus den Niederlanden schon als Vorband spielen durften, und manchmal auch wie bei Neil Young („Don’t You Weep“).
Label: Excelsior Recordings
Format: CD, LP, DL 24/96
Beabadoobee – This Is How Tomorrow Moves
Für wenige Sekunden meint man, die falsche CD eingelegt zu haben. Ist das nicht von Tom Pettys Erfolgsalbum Wildflowers? Der Professor hört warmherzige Americana-Grooves, irgendwo zwischen Allman Brothers, Beatles-Pop und Southern Rock zu Hause. Bass, Drums und Gitarre swingen so vertraut mit- und umeinander, als liefe der Song schon zehn Minuten und nicht acht Sekunden. Genau dann aber setzt eben nicht Pettys sanft-nasaler Gesang ein, sondern eine junge Frau, deren Stimmfarbe zwischen Kellerclub und Kinderzimmer changierend nach einem 14-jährigen Soultalent klingt. Natürlich ist dem nicht so, der Professor hatte sich ja bereits vor Einlegen der CD kopfüber ins tiefste Netz gestürzt und recherchiert, und obendrein ist auf dem Cover von This Is How Tomorrow Moves weder Petty noch irgendeine Blume zu sehen, sondern eben die zwar junge, aber doch schon 24 Jahre alte Künstlerin Beabadoobee. Und das neue, dritte Album der Britin, die als Beatrice Ilejay Laus in Iloilo City auf den Philippinen geboren wurde, dann aber in London mit Gitarrenunterricht und steifen Schulgepflogenheiten kollidierte, ist ganz banal: ein großes Werk. Beabadoobee ist eine sehr gute Songschreiberin, was auch Rick Rubin zu Ohren gekommen war, der von sich aus verkündet hatte, er wolle ihr nächstes Album produzieren. Für alle, die gerade von einer langen Reise zum Mars zurückgekehrt sind: Rick Rubin ist jener Produzent, der einst mit den Beastie Boys (Licensed To Ill) begann, über die Red Hot Chili Peppers (Blood Sugar Sex Magik) eben bei Tom Pettys Soloplatte Wildflowers landete, Johnny Cash zum zweiten, besten Frühling verhalf und später Adele, AC/DC, ZZ Top, Lady Gaga betreute … Well, und zwischendrin findet der weihnachtsmannbärtige Mr. Rubin Zeit für spannende Seitenprojekte wie dieses hier, das zum großen Teil in Rubins Shangri-La Studios in Malibu Beach entstand. Hört hier hinein: „Take A Bite“ (Eröffnungssong, der Tom Pettys lässigen Southern Swang mit dem melancholisch-schönen Songwritingstyle eines Elliot Smith kombiniert), „One Time“ (Das aber ist doch von Elliot Smith? Nein? Welch Glück, dass wieder jemand so schöne Songs schreibt) und „Post“ (Poprocksong für die Generation Z, dem man eins anhört: Beabadoopee begleitete über Wochen Taylor Swift als Vorband in den USA. Diese Vibes wurden von Rubin in ein passendes Arrangement umgesetzt – gute Mischung!).
Label: Dirty Hit/Sony
Format: CD, LP, DL 16/44
Marcus Trummer – From The Start
Die kanadische Prärie. Der Geruch von Staub und Steppengras und Rinderpisse. Tumbleweed auf schnurgeraden Highways, das Rauschen des Windes im Gestrüpp, des ewigen Windes, der nie den Atem anhält. Ja, das ist Alberta, die westlichste der Prärieprovinzen Kanadas und Heimat von unzähligen Eishockeyspielern, Curlern, Synchronschwimmerinnen und, why not, jeder Menge Wrestlinghelden. Wer hierzu mehr erfahren möchte, studiere bitte bei Wikipedia die „Liste von Persönlichkeiten der Stadt Calgary“. Ich muss aber darauf hinweisen: Ein Name ist darauf nicht zu finden, noch nicht. Auch Marcus Trummer ist ein Kind Calgarys, und „Kind“ ist fast noch wörtlich zu nehmen, jedenfalls in den Welten des Blues und des Soul. 23 Jahre alt ist der Gitarrist und Sänger, der mit From The Start gerade sein kreativ betiteltes Debütalbum veröffentlicht hat. Aber, don’t judge an album by it’s cover, das Werk ist so reif wie jedes Album von, sagen wir, Solomon Burke, und wer dem Professor nun an den Kopf wirft, dass das den Tatbestand der Gotteslästerung erfülle und sofort den Hashtag #Wo-ist-die-Inquisition-wenn-man-sie-mal-braucht? zusammenbastelt, dem sei erwidert: #Get-the-fuck-out-of-my-kitchen! Marcus Trummer wurde vom kanadischen Leitmedium Calgary Herald bereits eine „alte Seele“ attestiert, in seiner Stimme schwinge eine unvergleichliche „weise Müdigkeit“. Das kann ich nur unterschreiben, und füge folgende müde Weisheit hinzu: Gelobt seien die weisen Müden! Produziert wurde das Werk jedenfalls von einem jungen Wachen mit Zottelhaar, von Gitarrist Ross Hayes Citrullo, der mit seiner Band The Commoners gerade von Toronto aus die Welt mit schwerstem Südstaatenrock erobert. Marcus Trummer jedenfalls singt Soul, er singt den Blues, und er schreibt gute Songs. Ruhige, weise Lieder, die von der Weite der Prärie erzählen.
Label: Gypsy Soul
Format: CD, LP, DL 24/48
Elles Bailey – Beneath The Neon Glow
Der Professor übt sich in Selbstreflexion und muss feststellen: Manch in seiner Rhythm and Soul Revue gelobhudeltes Werk muss nicht jedem gefallen. Da greife ich oft nach den Händen des FIDELITY-Lesezirkels und führe Euch auf entlegenste Trampelpfade weit, weit entfernt von jeder Middle-of-the-road-Navigation. Nun, als treue Konsumenten meines Freestyle-Stream-of-Consciousness (Literaten werden eventuell die kleine Vereinnahmung von James Joyce an dieser Stelle goutieren) wisst Ihr: Im professoralen Yin & Yang gibt es immer wieder mal einen Ausgleich – steuern wir also jetzt ausnahmsweise einmal geradeaus und mitten-auf-der-Straße und freuen uns über ein Album, das gefällig ist. Elles Bailey, Soulsängerin aus Bristol, bietet auf ihrer vierten Studioplatte, Beneath The Neon Glow, eher Soul light, versetzt mit radiokonformen Poprock-Essenzen und einer guten Portion Nashville-Americana. Eventuell kein Wunder, sitzt sie doch auch regelmäßig am Mikrofon des britischen Radiosenders Planet Rock Radio, bei dem zeitweise auch Alice Cooper mit seiner Radioshow unter Vertrag war und der einige Jahre lang einem schottischen Konsortium mit Ian Anderson von Jethro Tull, Fish von Marillion und dem nordirischen Bluesmissverständnis Gary Moore gehörte. Elles Bailey jedenfalls wechselt auf Beneath The Neon Glow zwischen sattem Bluesrock („Enjoy The Ride“: grundsolide Einführung in ein gutes, wenngleich nicht grandioses Werk, mit einer im Blues verankerten Gitarre, perlender Pianokunst und einer satt treibenden Rhythmussektion) und in meinen Augen dezent-langweiliger Nashville-Balladen-Melodramatik, jaulende Pedal Steel inklusive („Silhouette In A Sunset“). Lasst Euch von meiner Arroganz aber nicht abschrecken. Denn auch der Professor muss dies feststellen: Zum groovenden „1972“, einem feinen Country-Funk mit Louisiana-Offbeat, lässt sich vortrefflich eine flotte Sohle aufs Parkett legen.
Label: Outlaw Music/Cooking Vinyl
Format: CD, LP, DL 24/48







