Mal Waldron
Zwischen Erinnerung und Wiederholung: Die radikale Ökonomie des Mal Waldron.
In einer Kunstform, die von Tempo, Virtuosität und Expressivität lebt, war Mal Waldron eine stille Ausnahme. Geboren 1925 in New York, aufgewachsen in Queens, Kind westindischer Einwanderer – Waldron hätte auch ein anderer werden können. Seine Eltern wollten nichts vom Jazz wissen, förderten seine klassische Ausbildung. Aber Waldron hörte Swing im Radio, entdeckte den Jazz für sich – zunächst auf dem Altsaxofon, inspiriert von Coleman Hawkins. Später wechselte er zum Klavier, auch aus Pragmatismus: Charlie Parkers Geschwindigkeit schien unerreichbar, und Waldron glaubte, nicht das Ego für das Blasinstrument mitzubringen. Das Klavier war intimer, kontrollierter. Nach dem Studium am Queens College begann Waldron Anfang der 1950er seine Karriere als Pianist in der New Yorker Szene. Er spielte mit Charles Mingus und Jackie McLean. Besonders die Zeit mit Mingus war formend – nicht nur musikalisch. Waldron war damals noch ein Schüler von Horace Silver und Bud Powell, sein Spiel voller Durchgangsnoten, harmonischer Fülle, Läufe. Mingus drängte ihn zur Klarheit, zur Reduktion. Diese Aufforderung zur Präzision – harmonisch wie emotional – blieb ein Leitmotiv seines Spiels.
Der Wendepunkt kam 1963. Eine Überdosis Heroin führte zum totalen Zusammenbruch. Waldron konnte sich an nichts mehr erinnern – nicht an Musik, nicht an seinen Namen. Er zitterte, konnte nicht spielen. Schocktherapien, Lumbalpunktion. Ein Reset. Danach begann eine mühsame Rückkehr: Erst hörte er eigene Aufnahmen, dann spielte er einfache Linien, notierte Soli, bis das Improvisieren wieder möglich wurde. Dieser Prozess dauerte Jahre – und veränderte sein Spiel grundlegend. Vor dem Zusammenbruch war Waldron ein lyrischer Spieler. Danach wurde er kantig, entschlackter, rauer, er machte die Wiederholung zum Zentrum seines Ausdrucks. Wo andere sich in Akkordwechseln und Melodievariationen verloren, blieb er hartnäckig bei einem Motiv, variierte es leicht, ließ es stehen, drehte es, wiederholte es: ökonomisch, fokussiert, auf das Wesentliche bedacht.
In den USA fand Waldron nach dem Bruch keinen Platz mehr. 1965 zog er nach Europa – zuerst nach Paris, dann Rom, Köln, schließlich München und Brüssel. Die Entscheidung fiel ihm leicht, er kannte Europa von Tourneen. In Interviews sprach er später vom „Konkurrenzterror“ in den USA, vom Frust, dass schwarze Musiker schlechter bezahlt wurden als ihre weißen Kollegen. In Europa konnte er arbeiten – unabhängig und respektiert. Auch Plattenlabels schätzten seine Arbeit. Free At Last war 1969 das erste Album auf dem später berühmten ECM-Label. 1971 folgte The Call als erstes Album auf dem Sublabel JAPO – mit E-Piano, damals noch ungewohnt für Waldron. Später spielte er auch mit der Krautrock-Band Embryo, blieb experimentierfreudig, aber stets sich selbst treu. Japan wurde in den 1970ern und 1980ern zu seiner zweiten Heimat. Dort verehrte man ihn, er tourte regelmäßig und nahm etliche Platten auf. Waldron sprach vier Sprachen: Englisch, Französisch, Deutsch, Japanisch. Er war international, aber nie beliebig. In den 1990ern zog er nach Brüssel und blieb dort bis zu seinem Tod 2002. In Belgien, sagte er, achte man mehr auf die Autos als auf die Ampeln – das gefiel ihm. In den USA trat er kaum noch auf, das Rauchverbot in Clubs störte ihn. Er war bis zuletzt stur, eigen, kompromisslos.
Mal Waldron Trio – Paris 1970
Eine bislang unveröffentlichte Liveaufnahme des Mal Waldron Trios vom 10. März 1970, aufgenommen im Pariser Hotel Palais d’Orsay im Rahmen des Internationalen Klangfestivals und ausgestrahlt in der Radiosendung Jazz Vivant von André Francis, präsentiert das Label Sam Records, das wir hier im Vinylcorner bereits einmal lobend für die liebevolle Rekonstruktion in Frankreich entstandener Jazzaufnahmen gelobt haben. Waldron tritt hier mit einem jungen, elektrisierenden Christian Vander am Schlagzeug und dem Bassisten Jean-François Catoire auf. Das Trio hatte bereits im Sommer 1969 in Antibes für Aufsehen gesorgt – hier nun die Fortsetzung, noch intensiver, noch reifer. Der Konzertmitschnitt zeigt Waldron in einer kreativen Übergangsphase: Nach Jahren der persönlichen Krise und seinem Rückzug nach Europa kehrte er mit neuer Klarheit und Dichte in sein Spiel zurück. Seine linke Hand treibt kompromisslos voran, während die rechte kontrollierte Spannung aufbaut – minimalistisch, konzentriert, doch voller Ausdruck. Vander spielt ungestüm, roh, frei – eine perfekte Ergänzung zu Waldrons strukturierter Tiefe. Catoire verankert das Ganze mit ruhiger Intensität, kann aber auch mit dem gestrichenen Bogen äußerst expressiv, wenn nicht gar regelrecht kratzbürstig klingen. Wie immer bei Sam Records überzeugt auch diesmal wieder eine lupenreine Pressung, ein hochwertiges Cover und ein audiophiles Mixing für ein ganzheitliches Paket, das die Sonderstellung des kleinen französischen Labels erneut bestätigt.
Mal Waldron – First Encounter
Die zweite empfehlenswerte Neuerscheinung zu Waldrons Geburtstag könnte man auch umschreiben: Treffen sich ein Amerikaner und ein Europäer in Japan zu einer Plattenaufnahme und engagieren den führenden Drummer des Landes. Am 8. März 1971 trafen sich in Tokio der Pianist Mal Waldron, der Bassist Gary Peacock und der Drummer Hiroshi Murakami zu einer musikalischen Session, die unter dem Titel First Encounter veröffentlicht wurde. Beide Musiker verband ein ausgeprägtes Interesse an improvisatorischer Freiheit und klanglicher Erkundung. Die Aufnahme dokumentiert ihr Zusammenspiel in einer konzentrierten, live gespielten Session ohne nachträgliche Bearbeitung. First Encounter entstand in einer Phase, in der sowohl Waldron als auch Peacock künstlerisch gefestigt und stilistisch eigenständig waren. Die Aufnahme zeigt die individuellen Stärken beider Musiker ebenso wie ihre klare kommunikative Verbindung im Duo. Die Improvisationen sind von durchgängiger Spannung geprägt, das Zusammenspiel wirkt unmittelbar und frei von Routine. Das Album ist weniger ein klassisches Jazzset als ein klangliches Protokoll dreier erfahrener Musiker, die ein gemeinsames Ausdrucksfeld ausloten. In seiner Reduktion und Tiefe bietet First Encounter einen konzentrierten Einblick in das Potenzial des improvisierten Dialogs – und markiert damit einen besonderen Moment innerhalb des modernen Jazz. Auch wenn hier nicht ganz die außergewöhnliche Produktionsgüte der Veröffentlichung von Sam Records erreicht wird, so ist es hier doch schon allein der Repertoirewert, der das Vinyl zu einem Must-have macht.
Und wir sagen „Happy Birthday, Mr. Waldron“ und hoffen, dass das der 100. Geburtstag dieses Ausnahmetalents des modernen Jazz wieder ein wenig stärker in den Fokus der Musikfreunde führt.





