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Federico Albanese im FIDELITY Interview

Federico Albanese im FIDELITY Interview

„Ich schreibe Rocksongs. Sie klingen nur nicht so“

Federico Albanese im FIDELITY Interview

Federico Albanese war als Kind jeden Sonntag in der Mailänder Scala, spielte als Teenager Bass in einer Punkband und heiratete später die Tochter von Ludovico Einaudi. Heute ist er selbst ein gefeierter Pianist, der in Opernhäusern und auf den Musikfestivals der Welt spielt. Im Gespräch mit FIDELITY verrät Albanese, wie das Sonnenlicht im Piemont und James Joyce’ Ulysses sein neues Album Blackbirds And The Sun Of October prägten.

Federico Albanese im FIDELITY Interview
Federico Albanese. Fotografie: Sara Spimpolo, Dovile Sermokas, Marco Jeannin, Philip Wesselhöft

Federico Albanese ist zu spät. Das Videocall-Fenster bleibt zunächst schwarz. Ein Plattenmanager muss ihn anrufen, dann erscheint sein dunkler Lockenkopf auf dem Bildschirm. Er bittet um Entschuldigung, er habe beim Klavierüben die Zeit vergessen. Er stecke ja gerade mitten in den Vorbereitungen zu seiner neuen Tour, auf der er nun erstmals die Songs seines neuen Albums Blackbirds And The Sun Of October spielen wird. Sein erstes neues Soloprogramm in drei Jahren, und das Üben sei „harte, harte Arbeit“, sagt er und schaut dabei aus recht müden, aber freundlichen Augen: „Man gewöhnt sich zu schnell an bestimmte Klangwelten. Die Kunst ist es, sich immer wieder neu zu erfinden. Aber, nun zu uns: Was wollen Sie wissen?“

FIDELITY: Federico, zu Beginn ein Geständnis. Als mir das Interview mit Ihnen angeboten wurde, kannte ich Sie nicht. Wissenslücke.

Federico Albanese: Das kommt vor.

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Mittlerweile habe ich die Lücke natürlich gefüllt. Sogar meine Tochter hört jetzt Albanese. Der Titelsong Ihres neuen Albums hat einen Platz in ihrer „Nicht-stören-ich-bin-jetzt-zwei-Stunden-im-Badezimmer“-Playlist bekommen. Das schafft nicht jeder.

Das ist wunderbar! Musik ist so wichtig. Wie alt ist Ihre Tochter?

Gerade 18 geworden. Ihre Schwester ist 15 und hat gerade ihre ABBA-Phase.

Ach ja … Ich bin selbst Vater von drei Kindern, aber mein Ältester ist erst 8 Jahre, die Tochter 5 Jahre und der Kleine gerade 9 Monate alt. Zwei Stunden im Badezimmer, das gibt’s zum Glück noch nicht. Ich habe andere Themen … (lacht)

Federico, es kommt nicht oft vor, dass Cover-Artwork und erster Song eines Albums so perfekt Hand in Hand gehen. „Into The Sun“ klingt so, wie das Bild aussieht. Was war also zuerst da: der Sound oder die Sonne auf dem Foto?

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Das Coverbild kam erst später. Es entstand während einer Videoproduktion zum Album. Das Bild fängt für mich perfekt die Stimmung ein, in der das Album entstand. Ende 2022 bin ich nach einigen Jahren in Berlin mit der Familie zurück nach Italien gegangen, ins Piemont, in ein Haus auf dem Land. Die Farben, die Landschaft, die Sonne haben mich in ihren Bann gezogen. Das Licht im Herbst, wenn das Jahr sich neigt, das ist etwas ganz Besonderes. Magisch. Das war der Beginn des Albums.

Aus „Into The Sun“ kann ich nicht heraushören, ob die Sonne auf- oder untergeht. Bricht für Sie ein neuer Tag an, oder ist es ein Blick zurück?

Die aufgehende Sonne. Wir haben ja eben über unsere Kinder gesprochen. Eines meiner Vater-Themen ist das frühe Aufstehen. Bei uns geht’s um 6 Uhr los, spätestens, an jedem Tag. Das ist zwar grausam, aber auch schön. So erlebe ich den Sonnenaufgang. Das unvergleichliche Licht auf sanften Hügeln. In Berlin, wo wir einige Jahre lebten, da guckst du aus dem Fenster und siehst nur andere Menschen, die auch aus Fenstern schauen. Mauern, Steine, Gebäude.

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Das Album klingt sehr lebensfroh, so wie der rhythmusgetriebene Titelsong. Einige Ihrer vorherigen Alben klangen mehr nach Moll als nach Dur.

Gut beobachtet. Ja, dieses Album ist hell, es ist dem Leben zugewandt. Vieles, was ich zuvor komponiert habe, war ein Tiefseetauchgang in innere Welten. In zuvor verschlossene Räume meines Selbst.

Der zweite Song, „Ulysses“, bezieht sich auf ein Werk der Literatur, das groß wie die Sonne ist. Ein Kunstwerk, in dem Worte, Gedanken und Erinnerungsfetzen bisweilen roh und scheinbar wirr sind – der berühmte Bewusstseinsstrom von James Joyce.

Ich habe Ulysses vor nicht allzu langer Zeit gelesen. Mich fasziniert, dass alles, was darin beschrieben ist – das Buch hat immerhin tausend Seiten –, an einem Tag spielt. Man ist live in den Köpfen dabei, wenn die Menschen nachdenken, wenn sie Ängste haben, wenn sie sich freuen. Ich bin ja auch bei mir selbst live dabei, wenn ich komponiere und die Versatzstücke, Ideen, verworfene Fragmente und was weiß ich durcheinanderfliegen.

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Dem Ergebnis ist das nicht anzumerken: Die Noten scheinen an der richtigen Stelle zu sein, das Ganze wirkt sehr homogen.

Das hat mit der anderen, der persönlichen Bedeutungsebene zu tun. „Ulysses“ spielt auch mit der Odyssee, mit der griechischen Mythologie. Tatsächlich ist Blackbirds das erste Album, das ich vollständig in meinem Heimatland, in Italien komponiert und aufgenommen habe. Meine Rückkehr zu den Wurzeln nach einer langen Reise. Meine Zeit in Berlin war wichtig. Aber ich werde nie gut Deutsch sprechen, die Kultur ist eine andere … So richtig zu mir selbst habe ich erst mit diesem Album gefunden.

Ein weiterer Song heißt: „A Story Yet To Be Told“. Lassen sich Geschichten denn durch Instrumentalmusik erzählen?

Natürlich! Es dreht sich alles um unsere Fantasie. Die Kraft der Vorstellung. Das ist die Schönheit der Instrumentalmusik. Sie ist extrem subjektiv. In dem Sinne, welche Assoziationen der Künstler beim Komponieren hat, und was sich die Zuhörerinnen und Zuhörer dabei denken. Es geht darum, Raum zu schaffen. Raum für Gefühle, für Gedanken, Raum einfach fürs Dasein. Die größte Kunst ist es, Musik zu schreiben, die das kann. Die mit wenigen Noten viel ausdrückt. Die auch Stille erlaubt.

„Bloom“ wiederum klingt dramatisch. In einem Film würde ich erwarten, dass jetzt der Held zum ersten Mal auftaucht.

Ich hatte Melodie und Rhythmus schon länger mit mir herumgetragen. Dieses dynamische, dramatische Da-dada, Da-dada, das Sie sicher meinen. Tatsächlich nahm das Stück erstmals schärfere Konturen an, als ich in anderem Zusammenhang mit einer Geschichte zu tun hatte, in der Ritter vorkamen. Insofern kann ich Ihre Assoziation mit dem Helden nachvollziehen, interessant.

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Schauen wir kurz zurück: Es heißt, ein Musiklehrer habe einst zu Ihrer Mutter gesagt: „Der Junge hat Potenzial.“ Sie waren zwei oder drei Jahre alt …

Die Lieblingsgeschichte meiner Mutter. Sie meint, sie habe mich erst dazu gebracht, Musik zu studieren. Auf Anraten eben dieses Mannes, er war nicht einmal Lehrer – ich ging ja noch gar nicht zur Schule –, sondern Verkäufer in einem Musikladen in Mailand.

Ihre Mutter schickte Sie dann ab Ihrem sechsten Lebensjahr dennoch jeden Tag zum Klavierunterricht.

Ich hab’s gehasst. Ich wollte da nicht hin. Das war in den Achtzigern. Wir haben uns ja eingangs über unsere Kinder unterhalten, Philip. Wir sind andere Väter heute, es ist eine andere Zeit. Meine Mutter damals sagte: Du gehst da hin. Ende der Diskussion. Ein „Nein, ich will nicht“ hätte sie nicht akzeptiert. Zu Hause galt: Es wird gegessen, was auf dem Tisch steht. Und es wird zum Musikunterricht gegangen. Er war eine Art vorbereitendes Training für das Musikinternat. Zum Glück musste ich da dann nicht hin, meine Eltern haben mich auf eine normale staatliche Schule geschickt. Vermutlich wäre ich am Konservatorium gut trainiert worden, aber sehr streng und strikt. Ich hätte heute sicher nicht die Freiheit, die Musik zu machen, die ich mache.

Interessant.

Eine stringente Ausbildung tut nicht immer gut. Ich sehe mich ja auch gar nicht als Pianist, der ich sicher geworden wäre, wenn ich früh den anderen Weg gewählt hätte. Ich bin heute Komponist, Instrumentalist, Interpret und, ja, auch ein wenig Pianist.

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Sie spielen in der ausverkauften Elbphilharmonie Piano, aber weder Chopin noch Mozart, Sie spielen beim Montreux Jazz Festival, aber nicht wie Oscar Peterson. Was sagt denn Ihre Mutter dazu?

Oh, sie ist ausgesprochen froh und stolz. Immerhin ist sie ja verantwortlich dafür … (lacht) Im Ernst, hätte sie mich nicht so gepusht, dann wäre ich heute nicht da, wo ich bin. Sie sprechen all die großen Namen an. Wissen Sie, wenn man jung ist, kopiert man seine Vorbilder. Ich hatte eine Phase, da wollte ich klingen wie Nirvana, dann wie die Queens of the Stone Age. Wenn man älter wird, sammelt man mehr und mehr eigene Erfahrungen. Man erlebt das Leben. Und es entstehen Dinge in dir, Emotionen, Verdrängtes, Schönes, was auch immer. Und man findet, wenn man Glück hat und fleißig ist, seine eigene Stimme.

Auf dem Weg dahin haben Sie nicht nur Nirvana kopiert, Sie haben auch den Bass in einer Punkband bedient.

Mein Vater liebte Rockmusik, meine Mutter die Klassik. Am Sonntag ging ich zum Beispiel mit meiner Mutter in die Scala. Nicht zur Abendaufführung, sondern zu den Opernproben am Nachmittag, die waren umsonst und offen. Und ein paar Tage später dann mit meinem Vater zu einem Konzert von Green Day. Beide Seiten prägen mich bis heute. Die Klassik und der Rock’n’Roll. Das hört man vielleicht nicht sofort, aber diese Attitüde des „Nicht-Nachdenkens“, dieses unvermittelte „in your face“ der Rockmusik, extremer noch des Punk, auch die Kreativität des Progrock, das alles steckt in meinem System. Letztlich schreibe ich Rocksongs. Sie klingen nur nicht so.

Federico Albanese

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Federico Albanese ist einer der bedeutendsten Pianisten der Gegenwart, dessen Werk keinem klassischen Genre zuzuordnen ist. Er verbindet in seiner Musik Klassik-, Elektronik- und Ambient-Elemente zu sehr melodiösen, oft minimalistischen Soundlandschaften. Sein neues, fünftes Studioalbum Blackbirds And The Sun Of October ist dafür ein gutes Beispiel. Der 1982 in Mailand geborene Künstler spielt in der Elbphilharmonie in Hamburg ebenso wie beim Montreux Jazz Festival oder dem einflussreichen Festival South by Southwest in Texas. In den 2000er Jahren gründete er gemeinsam mit der Sängerin Jessica Einaudi, Tochter des Pianisten Ludovico Einaudi und heute Mutter seiner drei Kinder, das Avantgarde-Duo La Blanche Alchimie. Neben seinen Soloalben hat sich Albanese auch einen Namen als Filmkomponist gemacht, zuletzt schrieb er den Soundtrack zu Last Swim, einem 2024 bei der 74. Berlinale ausgezeichneten Jugendfilm.

www.federicoalbanese.com

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