OYE Records, Berlin
Ein musikalischer Kompass im Berliner Dauerwandel.
Prenzlauer Berg, untere Oderberger Straße am südöstlichen Ende. Nur wenige hundert Meter vom Mauerpark entfernt, wo sonntags Drumcircles auf Bubble Tea treffen, liegt OYE Records. Ein Plattenladen, der sich seit Jahren gegen das Tempo des Wandels behauptet – nicht trotzig, sondern mit einem lässigen Selbstbewusstsein. Zwischen einem Vintage-HiFi-Laden mit DDR-Charme und der direkt aus den 90ern herübergebeamten Szenebar „Der Kapitalist“ gelegen, ist OYE ein Ort, der wirkt, als hätte Berlin ihn einfach in Ruhe gelassen, während drumherum alles glatter, teurer und braver wurde, einschließlich des nerdigen Luxushotels direkt gegenüber.
Überhaupt ist dieses schattige und kurze Ende der Oderberger Straße ein lebendiger, merkwürdig funktionierender Mikrokosmos. Während der nordwestliche Teil in den letzten Jahren zu einer touristischen Fressmeile heruntergekommen ist, wirkt die kreuzende Kastanienallee – im Volksmund auch gerne mal als Casting-Allee belächelt – als unsichtbare Grenze zu einem Stück Oldschool-Berlin, in dem GenX und GenZ einmütig in besagtem Kapitalist sitzen und sich parallel über Bourdieu, Boiler Room und die beste Alltagsjacke fürs Berghain unterhalten können. Und genau in dieser Atmosphäre ist OYE perfekt aufgehoben.
Vinyl kennt kein Ablaufdatum
OYE Records ist kein Nostalgietempel. Zwar atmet der Laden Vinylkultur durch und durch – mit Regalen voll 12-Inch, gestapelten Kisten und liebevoll gemachten „Staff Picks“ über der Theke –, aber das hier ist kein Museum, sondern ein lebendiger Ort. Und vor allem: generationenübergreifend. Wer Mitte der 2000er als junger DJ oder Musiksuchender zum ersten Mal durch die House-Sektion stöberte, gehört heute zum älteren Publikum. Und kommt immer noch. Denn immer wieder stehen da auch neue, junge Gesichter vor den Regalen, entdecken Musik, die ausgiebig auf einem der vier stilecht mit einem Technics SL-1210 ausgestatteten Abhörstationen goutiert wird. Aber Achtung: Ein Schild weist auf den gestatteten Maximalgebrauch von 20 (!) Platten hin. Das Publikum ist bunt gemischt – Berliner Locals, DJs auf Vinylmission, Musiknerds aus dem Easyjet-Tourismus. Man kommt wegen des Rufs, bleibt aber, weil die Auswahl einen festhält.
Auswahl mit Haltung
In den drei Räumen des Ladens entfaltet sich ein musikalisches Panoptikum, das nicht einfach „alles“ bietet, sondern das Richtige. House und Techno – aber mit all seinen Spielarten und fein nach unzähligen Subgenres sortiert. Mittlerweile auch viel Jazz – abseitiger, freier, oft afrozentriert. Hip-Hop, Elektronik, ein wenig Indie, Ambient, Brasil, Rare Grooves. Was auffällt: Die Sortierung ist kein reines Ordnungssystem, sondern fast eine Einladung zur Navigation. Oft mit kleinen Notizen zur Platte, keine Marktsprech-Phrasen, sondern Hinweise von Leuten, die ihre Musik kennen.
Wie es sich für einen Laden mit Spezialisierung auf das Elektronische gehört, sind nicht nur die Subgenres ausgewiesen, sondern auch vielfach die Groß- und Kleinlabels, die ja wiederum jeweils für ganz spezifische Sounds und Beats stehen. Auch das Secondhand-Angebot ist durchdacht: keine Wühltische, sondern Kisten, die zum Entdecken einladen – ob rare Pressung oder günstiger Cheapo. Wer Musik sucht, die nicht im Algorithmus auftaucht, wird hier fündig. Dazu gibt’s eine kleine, charmant verstreute CD-Auswahl, sowie Merch: Shirts, Beutel, Taschen – mit Stil, nicht mit Ramschcharakter.
Ein Laden, der mit der Stadt atmet
Was OYE ausmacht, ist auch seine organische Entwicklung. In einer Stadt, die sich seit den frühen 2000ern im Dauerumschwung befindet – von der Subkultur-Oase zur Airbnb-Metropole –, hat sich der Laden mitverändert, ohne sich je zu verraten. In den Jahren nach dem Berlin-Hype rund um Berlin Calling, Berghain und Bar25 wurde der Prenzlauer Berg zur schicken Adresse – doch OYE blieb. Wurde vielleicht sogar wichtiger. Denn während viele andere Läden schließen oder ausweichen mussten, war OYE weiterhin ein Fixpunkt für musikalisch Suchende. Dass 2013 eine zweite Filiale im nördlichen Neukölln eröffnete, war ein logischer Schritt hin zum neuen parallelen Szenekiez.
Atmosphäre statt Attitüde
OYE ist nicht schick, aber schlüssig. Keine Loftästhetik, keine Kunstlichtgalerie – sondern ein Laden mit Geschichte, Haptik, Klang. Die Leute, die dort arbeiten, haben Ahnung, ohne es aufdringlich zu zeigen. Sie hören zu, wenn man über Musik spricht. Und sie empfehlen Dinge, die tatsächlich passen – nicht das, was gerade auf Social Media en vogue ist. Man kann stundenlang durch die Regale wandern, die Musik auf den Plattenspielern vorne hören oder bei einem Instore-Gig im Laden bleiben. Manchmal ist der beste Moment im Laden nicht das Finden, sondern das Verlorengehen.
OYE ist kein Laden, der laut um Aufmerksamkeit bittet. Er ist einfach da – konstant, offen, klug sortiert. Wer ihn betritt, merkt schnell: Musik ist hier kein Trend, sondern ein kultureller Aggregatzustand. Und solange es Orte wie diesen gibt, ist das Herz der Berliner Musikkultur vielleicht doch noch nicht ganz verkauft worden.
Kontakt
OYE Records
Odenberger Straße 4
10435 Berlin
Telefon +49 30 66647821
mail@oye-records.com
Öffnungszeiten
Montag bis Samstag 12 bis 20 Uhr, Sonntag Ruhetag








