Alte Musik auf neuem Vinyl
Zwei eindrucksvolle Wiederveröffentlichungen zeigen, wie lebendig Musik des Mittelalters und der Renaissance klingen kann.
Wenn in der Klassikszene der Begriff „Alte Musik“ fällt, meint man damit in der Regel Werke aus der Zeit vor 1600 – also mittelalterliche Gesänge, Renaissancelieder, frühe Vokalmusik, manchmal auch Barock. Obwohl diese Epochen mit ihren archaischen Klangfarben und komplexen Vokalsätzen eine eigene Faszination ausstrahlen, fristen sie auf dem Vinylmarkt eher ein Nischendasein. Umso erfreulicher, wenn sich Labels wie Audionautes Recordings und Hyperion Records diesem Bereich widmen – mit Sorgfalt, Anspruch und einem Gespür für Repertoire abseits ausgetretener Pfade. Zwei aktuelle Wiederveröffentlichungen zeigen exemplarisch, wie spannend Alte Musik klingen kann, wenn sie mit Hingabe interpretiert und in hochwertiger Aufmachung auf Vinyl gepresst wird
Wer glaubt, Alte Musik sei gleichbedeutend mit gregorianischen Chorälen in Hallräumen, wird hier eines Besseren belehrt: Early Music at Wik ist eine musikalische Schatztruhe. Das Album präsentiert faszinierende Interpretationen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Musik durch das schwedische Ensemble Joculatores Upsalienses – übersetzt: „Spieler aus Uppsala“. Gegründet 1965 von Sven Berger, John Björklund, Per Åberg, Ola Persson und Torbjörn Carlsson, gehört das Ensemble zu den Pionieren der historischen Aufführungspraxis in Skandinavien. Joculatores Upsalienses widmen sich gleichermaßen geistlicher wie weltlicher Musik aus dem Mittelalter und der Renaissance – mit wissenschaftlichem Ernst, aber auch spürbarer Spielfreude. Die Aufnahmen für Early Music at Wik entstanden 1973 und 1974 im eindrucksvollen Ambiente von Schloss Wik, einer mittelalterlichen Burg südlich von Uppsala. Der Ort unterstreicht den authentischen Charakter der Musik und verleiht den Interpretationen eine besondere Tiefe.
Das Repertoire auf dieser Aufnahme umfasst weit mehr als bekannte geistliche Gesänge: Zu hören sind auch weltliche Lieder, Volksmelodien, Trinklieder und Tanzstücke – Musik, die in ihrer ursprünglichen Form selten dokumentiert wurde und weitgehend jenseits des etablierten Kanons der Alten Musik liegt. Gerade diese Mischung aus Kulturerbe und archaischer Lebensfreude macht das Album so besonders. In den 1970er und 1980er Jahren tourte das Ensemble intensiv – nicht nur durch Schweden, sondern auch durch Finnland, Norwegen, die Schweiz, Polen, Deutschland, die Niederlande und das damalige Jugoslawien. Auch außerhalb der Konzertbühne hat ihre Musik Spuren hinterlassen – unter anderem als Soundtrack im Strategiespiel „Europa Universalis II“.
Jetzt bringt Audionautes Recordings dieses Klangdokument in einem sorgfältigen Reissue neu heraus – direkt von den originalen Masterbändern aus dem Jahr 1975. Die Veröffentlichung überzeugt durch ihre hochwertige Ausstattung, exzellentes Vinyl und eine audiophile Klangqualität, die dieser Musik auf Augenhöhe begegnet. Hier trifft akustische Finesse auf editorische Sorgfalt: ein Album, das weit über bloße Nostalgie hinausgeht. Early Music at Wik ist audiophile Musik jenseits ausgetretener Pfade – ein Werk mit hohem Repertoirewert, das auch Kenner der Alten Musik überraschen dürfte. Für manche eine Neuentdeckung, für andere eine lange überfällige Wiederentdeckung. Klar ist: Diese Platte gehört in jede ernsthafte Sammlung historischer Musik.
Wagen wir uns mit der nächsten Veröffentlichung etwas weiter in die Neuzeit der englischen Renaissance vor. Die LP English Motets, aufgenommen mit The Gesualdo Six, bietet einen Überblick über die englische Vokalmusik vom späten Mittelalter bis in die frühe Barockzeit. Sie umfasst Werke aus rund zwei Jahrhunderten, darunter Kompositionen von John Dunstable, William Cornysh, Thomas Tallis, John Sheppard, William Byrd, Thomas Tomkins und Orlando Gibbons. Hyperion Records legt die bereits vor sieben Jahren digital erschienene Aufnahme innerhalb einer neu etablierten Vinylserie des Labels neu auf.
Im Zentrum steht die Entwicklung sakraler Musik in einer Zeit tiefgreifender religiöser und gesellschaftlicher Umbrüche. Die Auswahl folgt dabei keiner chronologischen Ordnung, sondern ist dramaturgisch wie ein Konzertprogramm konzipiert. So wechseln sich Werke mit dichter Polyphonie, wie Dunstables isorhythmisches „Veni Sancte Spiritus“, mit schlichteren, textzentrierten Sätzen ab – etwa Tallis’ „If ye love me“, das dem reformatorischen Ideal der Textverständlichkeit verpflichtet ist. Auffällig ist, wie flexibel die Komponisten auf die wechselnden konfessionellen Vorgaben reagierten. Während Dunstable und Cornysh noch in der spätmittelalterlichen Klangsprache verhaftet bleiben, zeigen Werke von Tallis und Byrd, wie sich Polyphonie in unterschiedliche Richtungen entfalten kann.
Die Interpretation durch The Gesualdo Six ist durchgehend kontrolliert und ausgewogen. Die Sänger agieren mit hoher Präzision, ohne dabei den emotionalen Gehalt der Werke aus dem Blick zu verlieren. Besonders deutlich wird dies in Tomkins’ „When David heard“, wo der Wechsel von distanzierter Schilderung zu persönlichem Schmerz überzeugend gestaltet ist. Auch dynamische Kontraste, wie sie Byrds „Vigilate“ verlangt, werden schlüssig umgesetzt, ohne ins Theatralische abzugleiten.
Aufnahmetechnisch wird durch die Nahmikrofonierung ein hohes Maß an Transparenz erreicht. Die komplexen polyphonen Strukturen bleiben auch in dichter gesetzten Passagen nachvollziehbar, wenngleich der Gesamtklang mitunter etwas kompakt wirkt, insbesondere dann, wenn man die Vinylveröffentlichung mit der CD vergleicht. Da aber viele Vinylliebhaber gerade die Kompaktheit schätzen, hat Hyperion mit dieser Wiederveröffentlichung auf Vinyl alles richtig gemacht.
Info
Senfl, Susato, Trad. u. a. – Early Music at Wik
Ensemble Joculatores Upsalienses
Label: AudioNautes
Format: LP (180 g)
Dunstable, Tallis, Byrd, Gibbons u. a. – Englische Motetten
The Gesualdo Six
Label: Hyperion
Format: LP




