Ian Anderson im FIDELITY-Interview
„Locomotive Breath“ – dieser Hit machte ab 1971 eine obskure englische Jazzfolkgruppe namens Jethro Tull zu einer der erfolgreichsten Rockbands aller Zeiten. Warum man dabei ausgerechnet auf den stilprägenden Sound einer Querflöte setzte, was Beethovens Fünfte Sinfonie damit zu tun hatte und wie das alles auch im neuen Album Curious Ruminant zur Entfaltung kommt – das erzählt Jethro Tulls Gründer und Mastermind Ian Anderson im exklusiven FIDELITY-Interview.

Eigentlich wollten wir Ian Anderson persönlich treffen. Der Gründer und Frontmann von Jethro Tull hatte privat in Deutschland zu tun und würde Zeit für ein Interview mit FIDELITY finden. Anderson, mittlerweile 77 Jahre alt, ist noch immer ein so umtriebiger wie spontaner Künstler; daher nun ein Videocall. Der Bildschirm ist schwarz, die Minuten verrinnen – doch dann erscheint Anderson. Er richtet seinen Kopfhörer und macht, stilecht im Sinne von „Locomotive Breath“, gleich mal Dampf. „Schieß’ los, ich muss gleich noch einen Zug kriegen.“ Also los!
FIDELITY: Ian, Sie haben es eilig, gestatten Sie mir aber eine Frage, die nichts mit Musik zu tun hat. Ich habe gelesen, Ihre zwei großen Interessen seien alte Fotoapparate und die indische Küche. Eine interessante Mischung …
Ian Anderson: Das hat mit meinem Lebensprinzip zu tun: Ich habe mir vor langer Zeit vorgenommen, dass ich jeden Tag etwas Neues lernen möchte. Ich habe noch so viele Wissenslücken, und die möchte ich eine nach der anderen stopfen.
Was machen denn Ihre indischen Kochkünste? Sie mögen’s scharf?
Ja! Diese Schärfe … Das ist letztlich unbändige Natur, die man schmeckt. Ich habe das erste Mal indisch gegessen, da war ich gerade 18, das hat mich nicht mehr losgelassen. Zu den alten Kameras geht die Verbindung sogar noch weiter zurück.
Wie weit denn?
Bis in meine früheste Kindheit. Fotografie fand ich immer faszinierend. Meine erste eigene Kamera habe ich heute noch. Eine Leica IIIb, ein ganz altes Ding von 1938. Ich wusste erst überhaupt nicht, wie die funktioniert, sie sah aber einfach irre aus. Ich habe mir dann selbst beigebracht, wie man sie benutzt.
Das bietet eine ideale Überleitung: Die Querflöte, Ihr Markenzeichen, haben Sie einst als Instrument für sich ausgewählt, obwohl Sie keinen Ton spielen konnten. Der Anfang soll Quälerei gewesen sein.
Mir war damals nur wichtig, ein Instrument zu wählen, das nicht nach Gitarre klingt. Eric Clapton, Peter Green von Fleetwood Mac und Jeff Beck von den Yardbirds waren die Meister, und ich wusste, das erreiche ich nicht. Heute bin ich ein Flötenspieler, der singt und hin und wieder auch Gitarre spielt. Tatsächlich wollte ich so Flöte spielen, wie Eric Clapton Gitarre spielt.
Wie darf man sich das vorstellen?
Clapton und auch Green hatten damals schon ein ganz spezielles Verständnis für die Dynamik, für den Raum zwischen den Noten. Wie Tonfolgen von improvisierten Soli klingen sollten, ohne dass sie einem nur ihr Können unter die Nase reiben. Die beiden hatten musikalisch einen enormen Einfluss auf mich.
Würde man eine Hall-of-Fame-Rockband zusammenstellen, mit John Bonham am Schlagzeug, Paul McCartney am Bass, Elvis Presley am Mikro, würden Sie da lieber Flöte oder Gitarre spielen wollen?
Am liebsten weder noch. John und Elvis sind tot. Ich würde gern noch am Leben bleiben. (lacht)
Rein hypothetisch natürlich!
Ok. Also, sollten Elvis und Co. mich hypothetisch fragen, würde ich mich geehrt fühlen. Vielleicht wartet ja im Jenseits so eine Band auf mich. Um die Frage zu beantworten: Natürlich wäre es die Flöte. Ich habe damals meine Gitarre verkauft, um mir meine erste Flöte kaufen zu können.
Fühlen Sie sich manchmal auf Ihre Flöte reduziert?
Überhaupt nicht. Wäre ich ein berühmter Tennisspieler, würde ich auch über meinen Tennisschläger fachsimpeln wollen.
Sie haben die Querflöte zu einem Rockinstrument gemacht. Songs wie „Locomotive Breath“ oder „Aqualung“ sind Hymnen, die eine ganze Generation geprägt haben. Was treibt Sie heute an, weiter Musik zu machen?
Verzweiflung und das Streben nach Erfüllung. Ich bin da ganz ehrlich, ich bin verzweifelt. Weil ich weiß, dass ich mit 77 Jahren nur noch wenig Zeit auf dieser Erde habe. Und ich will eigentlich noch so viel erleben, erledigen, tun, umsetzen. Das Streben nach Erfüllung ist dabei mitentscheidend. Ich will jeden Tag meine Grenzen neu ausloten. Als Künstler, als Songschreiber. Natürlich weiß ich, dass ich nie den perfekten Song schreiben oder die perfekte Show hinlegen werde. Ich will aber möglichst nah herankommen. Das treibt mich an.
Curious Ruminant ist nun Studioalbum Nummer 24. Progressive Rock, Folkrock, Electronic Rock, Hardrock, Weltmusik – in der Historie wurde Jethro Tull von Kritikern schon zig Genres zugeordnet. Wie würden Sie Ihren heutigen Stil beschreiben?
Gar nicht. Ich habe noch nie einen Song geschrieben, weil ich unbedingt mal eine Rock-, Folk- oder Sonstwas-Nummer schreiben wollte. Lieder sind wie Teenager. Man muss ihnen die Zeit geben, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Natürlich bin ich auch der Produzent. Der Vater, wenn Sie so wollen. Ich gebe eine Richtung vor, in die die Reise gehen soll. Wo man dann aber endet – das weiß ich nie vorher.
Bereits im ersten Song, „Puppet And The Puppet Master“, vereinen Sie Shanty und Folk mit Hardrock-Elementen. Wie stellen Sie sicher, dass all das nicht wild, sondern homogen klingt?
Ich vertraue meiner Intuition. Dieser Genremix war ja schon die Herausforderung, als wir Anfang der Siebziger Aqualung aufgenommen haben. Da gab’s Nummern mit Akustikgitarre, Gesang in weiter Ferne und einem Streichquartett, und dann waren da aber auch Vollblut-Rocksongs drauf. Wir haben nicht zu viel drüber nachgedacht.
Die Gratwanderung zwischen den Genres hat zu Kontroversen geführt. 1989 haben Sie einen Grammy Award als „Best Hard Rock/Metal Performance Vocal or Instrumental“ erhalten. Jethro Tull setzte sich gegen Konkurrenten wie AC/DC und Metallica durch. Die Auszeichnung löste einen Orkan von Protesten aus. In der Folge wurde die Grammy-Kategorie wieder abgeschafft.
Wir sind natürlich keine Hardrock- oder Heavy-Metal-Band. Aber wir haben ein paar Elemente dieser Musik in unseren Songs. Iron Maiden haben uns mal als Vorbilder genannt und sogar schon einen Song von uns gecovert. Aber den Award haben wir damals sicher nicht bekommen, weil wir eine gute Metal-Band waren.
Warum dann?
Die Jury fand es wohl einfach schade, dass wir netten Jungs noch keinen Grammy gewonnen hatten … (lacht) Es ist natürlich eine Ehre, so einen Preis zu bekommen. Aber ich mache mir eigentlich nicht viel daraus, ich will nicht angeben.
„Mit fünf, sechs Noten ein Riff schaffen, das unsere Zeit übersteht“ – das haben Sie einmal als die Passion von Musikschaffenden beschrieben.
Ich denke, ein paar Mal ist es mir schon gelungen. Die fünf, sechs Noten sind ja eher als Symbol zu verstehen.
Wofür?
Dafür, dass Musik nicht zu kompliziert werden sollte. Eine Melodie ist viel tiefgründiger, wenn sie nur aus wenigen Tönen besteht. Da draußen sind bestimmt noch einige solcher Riffs, die bislang noch keiner aufgeschrieben hat. Aber der Korridor wird schmaler. Riffs aus der Kategorie „Smoke On The Water“ oder „Sunshine Of Your Love“ von Cream gibt es einfach nicht so viele. Diese Melodien sind von so naiver Einfachheit. Die meisten Musiker denken viel zu kompliziert.
Als großes Vorbild haben Sie einst Beethoven genannt.
Ich weiß es natürlich nicht, aber ich bin mir fast sicher, dass Beethoven damals, als er dieses berühmte „Da-da-da-daam“ aus der dann Fünften Sinfonie erstmals im Kopf hatte, schon wusste: Das ist es. Diese Dramatik mit nur zwei Noten zu erzeugen – irre. Wäre Beethoven nicht mit 56 Jahren gestorben, hätte er wahrscheinlich irgendwann eine Hammer-Sinfonie im Stile von „Smoke On The Water“ komponiert.
Musik sollte einfach sein, wenige Noten müssen genügen, sagen Sie also. Und dann ist auf Ihrer neuen Platte der Song „Drink From The Same Well“ 16 Minuten und 42 Sekunden lang. Wie passt das denn zusammen?
Die Flötenmelodie und der Gesangspart haben ja eine klare und unkomplizierte Struktur. Die haben wir letztes Jahr aufgenommen. Die improvisierten Soli wiederum sind aus dem Jahr 2007 und waren eigentlich für eine Tour mit dem indischen Flötisten Hariprasad Chaurasia vorgesehen. Aber am Ende wollte er das nicht spielen. Die Demos sind auf einem alten Rechner in Vergessenheit geraten, ehe mein Sohn sie im Mai 2024 wiedergefunden hat. Um diese alten Aufnahmen herum haben wir dann den Song aufgebaut.
In den Anfangstagen von Jethro Tull haben Sie parallel zur Musik auch die Flure in einem Kino gewischt, um über die Runden zu kommen. Haben die Filme den Sound, der Jethro Tull ausmacht, eigentlich beeinflusst?
Die Filme weniger, aber visuelle Kunst auf jeden Fall. Ich habe damals zwei, drei Jahre Kunst studiert. Maler zu werden fand ich allerdings viel zu aufwendig. Aber für Fotografie hatte ich viel übrig, sie kommt meinem Naturell sehr entgegen.
Inwiefern?
Weil ich ständig Momentaufnahmen, die ich sehe, interpretiere. So entstehen bei mir viele Ideen für Songs. Songs stelle ich mir häufig in Bildern vor: Ich sehe die Dinge und beschreibe sie anschließend in Wörtern. Aber, hey, Martin, ich will nicht unhöflich sein, ich muss jetzt wirklich los, meinen Zug erwischen.
Alles klar. Gute Fahrt und danke für das Interview.
Jethro Tull wurde 1968 von Ian Anderson, Mick Abrahams, Glenn Cornick und Clive Bunker im englischen Blackpool gegründet. Die Besetzung wechselte im Laufe der Jahre mehrfach – nur Anderson, in Schottland geboren und heute 77 Jahre alt, blieb stetiges Mitglied. Er ist verantwortlich für das Markenzeichen der Band: das Flötenspiel. Mit Alben wie Aqualung und Songs wie „Locomotive Breath“ wurde Jethro Tull in den Siebzigerjahren weltbekannt. Curious Ruminant ist das 24. Studioalbum der Band. Es erschien am 7. März.








