Money Lisa
Ich leide unter etwas, das in der Psychologie als Phil-Collins-Syndrom bekannt ist.
Bzw. wäre, hätte ich statt Literaturwissenschaften Psychologie studiert und in meiner viel beachteten Dissertation die Auswirkungen von „In The Air Tonight“ auf die mentale Gesundheit des Menschen untersucht. Nun, Konjunktive beiseite, das Phil-Collins-Syndrom gibt es aus eigener Erfahrung tatsächlich, auch wenn’s nicht so heißt und man bei der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde jetzt die Hände über klugen Köpfen zusammenschlägt. Ich behaupte aber einfach mal, dass es vielen Menschen, die wie ich einst in den achtziger Jahren ausgewildert wurden, bis heute so ergeht: Erklingt der brave, bombastisch überschätzte Tenor von Phil Collins im Radio, setzen unvermittelt Hautausschlag, Haarausfall und hyperventilative Schnappatmung ein. Und bevor jetzt die Genesis-Fanbrigade den Chefredakteur dieses feinen Magazins zu bewegen sucht, mir die Betreuung der letzten Seite wegen unzumutbarer Legenden-Verhonepiepelung zu entziehen, entschuldige ich mich: Ich kann nichts dafür. Im Elternhaus erklangen Boogie-Woogie und Bob Dylan, zumindest bei Letzterem folge ich der Familientradition, und in keinem Kopf und auf keiner Playlist der Welt ist Platz für Dylan und Collins.
Eigentlich aber will ich darauf hinaus: Auf das Recht einer jeden und eines jeden, das persönliche kulturelle Basiscamp an den Gestaden des Mainstreams zu errichten. Ich freue mich für jeden Menschen, der zu „In The Air Tonight“ an den ersten Kuss, den ersten Sex oder das erste Konzert denkt und dabei nur freudige Gänsehaut und keine Panikpickel zu beklagen hat. Hey, ich selbst hatte vergangenen Sommer meine Mainstream-Erweckung, als ich mich im großen Fußballstadion an der Seite meiner Tochter fast vier Stunden lang von Taylor Swift plattsingen ließ. Was aber hätten ich und die anderen 50 000 Swifties wohl gesagt, wenn auf den gigantischen Bildschirmen eine Zahlungsaufforderung erschienen wäre und trotz des bereits entrichteten Ticketpreises von 235 Euro (Front-of-Stage!) noch einmal 20 Euro extra für die Darbietung von „Shake It Off“ eingefordert hätte?
Das ist logistisch natürlich fragwürdig, aber durchaus denkbar. Für die Darbietung eines anderen Superstars jedenfalls muss nun bald extra gezahlt werden. Im Louvre in Paris zieht die „Mona Lisa“ in einen neuen Ausstellungsraum. Das macht Sinn, denn die ewig lächelnde Dame wird im größten Louvre-Saal, dem Salle des États, von rund 20 000 Menschen täglich bedrängt und wurde schon mit Säure, Steinen, Suppe und Kuchen beworfen. Jetzt soll sie sicherer in einem Einzelzimmer residieren. Nur, bei der Gelegenheit will das Museum zusätzlich zum Museumseintritt von 15 Euro eine bisher nicht näher bezifferte Mona-Lisa-Gebühr kassieren. Da denke ich: Fair ist das nicht, da die allermeisten Besucher des Louvre ihre 15 Euro sowieso hauptsächlich für die Begegnung mit da Vincis „Mona Lisa“ und eher nicht mit Vermeers „Der Astronom“ zahlten. Aber, um einen guten Freund zu zitieren: „The times they are a-changing.“
Wer also diesen Sommer gedenkt, zum Beispiel AC/DC, Herbert Grönemeyer oder Ed Sheeran live in Deutschland zu sehen: Eventuell gibt’s „Highway To Hell“, „Männer“ oder „Shape Of You“ nur noch gegen Extragebühr, so wie das Lächeln im Louvre oder ein Schluck Wasser im Billigflieger. Wie sang einst ein entfernter Bekannter? „I can feel it coming in the air…“



