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Sviatoslav Richter - The Lost Tapes

Sviatoslav Richter – The Lost Tapes

Beethoven – Klaviersonaten Nr. 18, 27, 28, 31

Sviatoslav Richter – The Lost Tapes (Deutsche Grammophon)

Ein unerwartetes Wiederhören zwischen politischer Überwachung, pianistischem Genie und persönlicher Wahrheit.

Sviatoslav Richter – ein Name, der Kennern Ehrfurcht einflößt, aber vielen nur als legendärer, fast mythischer Pianist am Rande des allgemeinen Musikgedächtnisses erscheint. Die jetzt veröffentlichte Deutsche-Grammophon-Edition The Lost Tapes bringt uns diesen Mann näher, als es biografische Skizzen und Legendenbilder je konnten.

Sviatoslav Richter - The Lost Tapes

Die Aufnahmen aus Luzern und Meslay, 1965 mitgeschnitten, bislang nie offiziell erschienen, sind ein monumentaler Glücksfall – sowohl musikalisch als auch historisch. Geboren 1915 in Schitomir, wächst Richter zweisprachig (Deutsch und Russisch) in Odessa auf. Seine wahre pianistische Reifung beginnt erst mit 22 Jahren am Moskauer Konservatorium – unter Heinrich Neuhaus, der in ihm ein „Genie“ erkennt, dem er „eigentlich nichts mehr beibringen“ könne. Doch Richters Leben war kein lineares Künstlermärchen. Sein Vater wird von Stalins Schergen 1941 als angeblicher Spion erschossen. Als Angehöriger der deutschstämmigen Minderheit lebt Richter fortan im Spannungsfeld zwischen politischer Überwachung, Identitätskonflikten und musikalischer Exzellenz. Erst 1960 darf er – nach Intervention bedeutender Kollegen wie Gilels, Oistrach und Rostropowitsch – zum ersten Mal in den Westen reisen.

Richters Verhältnis zur Öffentlichkeit war zwiespältig. Er war kein Narzisst des Applauses, sondern ein radikal werkorientierter Musiker. Diese Haltung durchzieht auch die wiederentdeckten Aufnahmen wie ein roter Faden. Alles ist auf Beethoven gerichtet, auf die Wahrheit der Musik – nicht auf deren glamouröse Verpackung. Die Sonaten Nr. 28 A-Dur op. 101 und Nr. 31 As-Dur op. 110 erscheinen in seiner Lesart als kompromisslose Seelenlandschaften. Besonders die Fuge im Allegro ma non troppo von op. 110 sprengt durch Richters klangliche Schärfe und kontrollierte Emotionalität jede Vorstellung bloßer Werktreue: Klassizismus ohne Kälte, Leidenschaft ohne Pose. Es ist aufschlussreich, dass Richter in einem Interview ausgerechnet Glenn Gould – den kanadischen Antistar – kritisierte: „Er liebt nicht genug.“ Das saß. Gould hatte bei seinem Moskauer Konzert 1957 die Goldberg-Variationen ohne Wiederholungen gespielt – für Richter ein Sakrileg. Für ihn waren Wiederholungen kein Selbstzweck, sondern Momente der Transformation: „Beim ersten Mal streng, bei der Wiederholung gehe ich aus mir heraus.“

Richters Beethoven offenbart sich in The Lost Tapes als Gegenentwurf zu jeder Art mechanistischer „Texttreue“. Er balanciert Klarheit mit Wildheit, Struktur mit Klangrausch. Das Allegro der Sonate op. 101 gleicht einem kontrollierten Sturzflug, einer Raserei, die durch ihre rhythmische Präzision nie ins Chaotische kippt. Und dennoch gibt es einen Punkt, der ihn mit Glenn Gould eint, denn beiden war es gemein, Aufnahmen bis ins Detail zu perfektionieren. Richter verlangte immer wieder Retuschen angeblich missglückter Stellen, was bei Liveaufnahmen natürlich schwieriger zu produzieren war als bei Goulds manischen Studioproduktionen.

Warum verschwanden diese Tapes über Jahrzehnte in der Versenkung? Die Antwort bleibt im Dunkeln. War es der „metallische“ Klang des Luzerner Konzertflügels, wie es Markus Kettner vermutet? Oder politische Gründe? Oder schlicht das Desinteresse sowjetischer Instanzen an einer Veröffentlichung, die sich nicht in die Narrative des „kulturellen Exportguts“ einfügt? Die Aufnahmen existierten über Jahrzehnte nur als interne Testpressungen. Doch Elisabeth Leonskaja, Richters langjährige Weggefährtin, widerspricht deutlich der These, es habe an künstlerischer Qualität gemangelt. Sie beschreibt Richter auf diesen Tapes als „visionär“, als jemanden, der seine festgefügten Konzepte bewusst durch expressive Zuspitzungen übertrat – stets im Rahmen der Partitur, aber immer mit persönlichem Mut zur Abweichung.

Richters Leben war nicht nur von musikalischen Entscheidungen geprägt, sondern von politischen Zwängen. Als er 1965 in Luzern auftrat, war er vom sowjetischen Geheimdienst umgeben – ein stilles, aber allgegenwärtiges Korsett. Dass die Musik für Richter dabei zum Fluchtraum wurde, liegt nahe, zumindest lassen die wiederentdeckten Aufnahmen diese Interpretation zu. Gleichzeitig schuf er sich abseits des offiziellen Kulturbetriebs eine eigene Bühne: Die Grange de Meslay, eine mittelalterliche Scheune bei Tours, die er 1964 zum Konzertort umbauen ließ, wurde zur Heimat seines privaten Festivals.

Dieses Album zeigt Richter auf dem Zenit – technisch brillant, expressiv entgrenzt, innerlich wach. Er spielt Beethoven nicht als Denkmal, sondern als drängende Zeitgenossenschaft. Kein Wunder, dass er das pompöse Fünfte Klavierkonzert zeitlebens mied – ihm war der intime, fast sprechende Beethoven näher als der heroische. Auch wenn Richter sich oft selbst gegenüber kritisch war („Wenn ich zufrieden war, war kein Mikrofon an“), widerlegt The Lost Tapes diese Selbstzweifel auf atemberaubende Weise.

Das Album existiert auf CD und als Doppel-Vinyl. Ergänzt wird es durch Texte von Kai Luehrs-Kaiser, Markus Kettner und Jed Distler – eine lohnende Lektüre für alle, die sich dem komplexen Universum dieses Pianisten annähern wollen.

Sviatoslav Richter - The Lost Tapes

The Lost Tapes ist keine bloße Wiederentdeckung irgendeines beliebigen Konzertes, sondern ein Fenster in die Seele eines Mannes, der Musik nicht „spielte“, sondern lebte. Diese Aufnahmen sind kompromisslos, intensiv und vor allem authentisch ehrlich. Sie zeigen einen Pianisten, der nie gefallen wollte – und gerade dadurch unvergessen bleibt. Wer Richter bisher nur als Name kannte, hat jetzt die Gelegenheit, ihn wirklich kennenzulernen: in seinen Widersprüchen und damit in seiner Wahrheit.

Ludwig van Beethoven – Klaviersonaten Nr. 18, 27, 28, 31

Sviatoslav Richter
Label: Deutsche Grammophon
Format: CD, Doppel-LP, DL 24/48

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