Looking for the English FIDELITY Magazine? Just click here!
Lowe und Rudd vs Karl Berger

Allen Lowe und Roswell Rudd versus Karl Berger

Grüße aus Elba

Allen Lowe und Roswell Rudd versus Karl Berger

Na schön, diesmal ist es wohl Zufall: zwei Jazzalben mit dem gleichen Bildmotiv.

Nur sieben Jahre lagen zwischen diesen beiden Alben – offenbar kannte man in Köln 2002 nicht die Veröffentlichung aus München von 1995. Wie bitte, gleich zwei deutsche Jazzlabels? Solche Zufälle passieren nicht einfach – die Koinzidenz hat natürlich einen Hintergrund. Fangen wir an beim Maler des Bildes: Er hieß Fritz Hagl (1928–2002), stammte ursprünglich aus München und war – sagen wir mal – ein „jazziger“ Künstler. „Er hatte schon immer ein ausgeprägtes Empfinden für Rhythmik“, heißt es über ihn. „Nach einem Nachmittag des Malens setzte er sich gerne an die Trommeln oder zupfte die afrikanische Sanza.“

Die Musik lag in der Familie. Hagls Bruder Klaus wurde als Jazzschlagzeuger bekannt. Er hat mit vielen berühmten Solisten gearbeitet und ist zum Beispiel auf Platten des Trompeters Chet Baker zu hören. Hagls Schwester Ingrid Sertso machte sich einen Namen als Jazzsängerin. Sie hat den deutschen Freejazz-Pionier Karl Berger geheiratet und gründete mit ihm zusammen das Creative Music Studio in Woodstock.

Das heißt: In Fritz Hagls Atelier auf der italienischen Insel Elba waren häufig Jazzmenschen deutscher Herkunft zu Gast. Die Frage ist nur: Warum haben sie zweimal dasselbe Bild gewählt und jeweils offenbar selbst abfotografiert? Fand der Maler, dass dieses eine Motiv (ca. 1976, Tempera auf Leinwand/Pressspan, Titel unbekannt) ganz besonders gut zur improvisierten Musik passt? Oder hat er etwa nur ausgesuchte Bilder zur Reproduktion freigegeben? Am wahrscheinlichsten ist diese Erklärung: Sein Gemälde (inspiriert von der Natur auf Elba) hat im oberen Bereich eine einfarbige (Himmels-)Fläche, auf der man gut die notwendige Schrift platzieren kann. Es gibt beeindruckendere Gemälde von Fritz Hagl. Aber nur wenige von ihnen bieten so viel Platz für Albumtitel und Künstlernamen.

Das Album Woyzeck’s Death besitzt einen besonderen Bezug zu Deutschland: Es ist überwiegend von Georg Büchners Dramenfragment Woyzeck (1836) angeregt (das auch Alban Berg bekanntlich zu einer Oper inspiriert hat).

Lowe und Rudd vs Karl Berger

Deshalb wohl wandte sich der Bandleader und Saxofonist Allen Lowe an ein Label in Büchners Heimatland. Lowe fand, das Drama Woyzeck habe viel gemeinsam mit Jazz: „Wenn doch nur der Jazz eine intellektuelle Tradition hätte, ein Bewusstsein der Gemeinsamkeit mit anderen Künsten!“ Beim deutschen Label kannte man Woyzeck zwar, hatte aber von Allen Lowe noch nie gehört. Deshalb wurde der bekanntere Name des Sidemans Roswell Rudd mit aufs Frontcover gesetzt – immerhin hatte der auch zwei längere Stücke beigetragen.

Den Kern des Albums aber bildet Lowes neunteilige Büchner-Suite, gedacht als „Analogie zu bestimmten Szenen des Dramas“. Ein Rhythmustrio begleitet dabei vier grandiose, ganz individuelle Bläser: Allen Lowe (Saxofon), Roswell Rudd (Posaune), Randy Sandke (Trompete) und Ben Goldberg (Klarinette). Lowes fesselndes Tenorsax erinnert manchmal an David Murray oder Archie Shepp, und sein fantasievoll freies, kräftig swingendes Improvisieren mit tonalem Zentrum gibt den anderen Solisten die innovative, gelöste Haltung vor. Die Themen sind raffiniert vierstimmig ausgestaltet: „Das Schreiben und Arrangieren war die Hölle“, gab Lowe später zu. Manchmal wird die Mehrstimmigkeit noch durch einen Synthesizer erweitert. Es ist eine Musik, die man als verspätete Krönung des Loft-Jazz hören könnte.

Das Album Stillpoint ist da stilistisch nicht vollkommen anders. Auch der kürzlich verstorbene Vibrafonist und Pianist Karl Berger (1935–2023), Fritz Hagls Schwager, kommt aus der freieren Jazztradition, hat im Lauf der Jahre aber ein besonderes Talent für stimmungsvolle, verspielte Miniaturen entwickelt.

Lowe und Rudd vs Karl Berger

Er arbeitet hier mit acht Kollegen und Kolleginnen (darunter seine Frau Ingrid Sertso), aber er beschränkt sich meist auf Duo-, Trio- oder Quartettstärke. Es gibt frei improvisierte, nachdenkliche Stücke, die teils einfach nach den Instrumenten benannt sind: „Go Vibes/Guitar“, „Choose Piano/Bass“ oder „Feel Bass“ (ein unbegleitetes Solo von John Lindberg). Es gibt aber auch schnelle Swingnummern (mit Berger am Vibrafon) oder Balladen (mit Berger am Piano). Der großartige Saxofonist Peter Apfelbaum kann mehrfach glänzen.

Die Kritiker lobten dieses Album für seine „Abgeklärtheit und Gelassenheit“, seine „zeitlose und unprätentiöse Schönheit“, seine „berückende Melodik, die auch in freien Passagen noch leicht klingt wie ein Schubertlied“. Karl Berger selbst sagte damals im Interview: „Für mich ist heute besonders relevant, dass Musik Türen öffnet, die Räume erweitert, aufatmen lässt, spielerisch zu unerwarteten Dimensionen führt, die Zuhörer innerlich zum Spielen bringt. Das kann improvisierte Musik sehr gut leisten.“

Dass Fritz Hagls Gemälde dieses Berger-Album ziert, war wohl auch ein stiller Nachruf auf den Maler, der kurz vor der Veröffentlichung gestorben war. In einem biografischen Abriss über Hagl heißt es: „Für Fritz und seine Malerei war Musik unentbehrlich geworden. Mit Karl Berger kamen oft bekannte Musiker wie zum Beispiel Steve Lacy, Dave Holland, Butch Morris, Gerd Dudek und so weiter auf die Insel. Dadurch gab es für den Maler eine Menge musikalischer Anregungen.“

Allen Lowe, Roswell Rudd: Woyzeck’s Death (Enja 9005)
Karl Berger & Friends: Stillpoint (Double Moon 71029)

Allan Lowe, Roswell Rudd – Woyzeck’s Death auf discogs.com

Karl Berger & Friends – Stillpoint auf discogs.com

Die angezeigten Preise sind gültig zum Zeitpunkt der Evaluierung. Abweichungen hierzu sind möglich.