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Chico Hamilton Quintet vs Incognito

Chico Hamilton Quintet vs Incognito

Figuren auf gelbem Grund

Chico Hamilton Quintet vs Incognito

Manchmal entstehen aus der Not die besten Ideen.

Als 1952 auf der Bühne des Jazzclubs „The Haig“ in Los Angeles kein Klavier verfügbar war, erfand Gerry Mulligan kurzerhand eine neue Jazz-Ästhetik. Um die fehlenden Akkorde wenigstens anzudeuten, begannen die beiden Bläser (Mulligan und Chet Baker) einander wechselseitig zu begleiten. Begeisterte Kritiker sprachen von einer „Mischung aus Bach und Dixieland“ – es war die Geburtsstunde des sogenannten West Coast Jazz, einer kontrapunktisch-experimentellen Variante des Cool Jazz. Der Schlagzeuger bei diesem Experiment hieß Chico Hamilton: „Das Mulligan-Baker-Quartett entstand gewissermaßen in meinem Wohnzimmer“, sagte er gerne.

Getragen vom Erfolg, gründete Hamilton 1955 dann sein eigenes West-Coast-Quintett. Das Auffälligste an dieser Band nun war der fast kammermusikalische Sound. Der Bläser (Buddy Collette) spielte weniger Saxofon als vielmehr die klassiknahen Blasinstrumente Flöte und Klarinette. Der Cellist (Fred Katz) war ohnehin mehr Klassiker als Jazzer. Und der E-Gitarrist (Jim Hall) kultivierte einen weichen, ganz unaggressiven Ton. Das Cover des Debütalbums offenbart schon gleich diese besondere Instrumentierung – der berühmte William Claxton machte übrigens die Musikerfotos.

Chico Hamilton Quintet vs Incognito
Chico Hamilton Quintet feat. Buddy Collette (Pacific Jazz 1209)

Beim Chico Hamilton Quintet waren Komposition und Arrangement zeitweise wichtiger als das Improvisieren. „Wir haben echte Kompositionen, anderenfalls gäbe es keinen Grund für ein Cello“, sagte Jim Hall. „Das Cello hält uns zusammen.“ Allerdings bestand die Band darauf, dass ihre Kompositionen aus dem Geist der Jazzimprovisation entstanden waren: Einer improvisiert etwas, ein anderer macht daraus ein Arrangement. Diese jazzbasierten Kompositionen seien „eine neue musikalische Form“, meinte der Cellist Fred Katz – er nahm damit schon die Idee der „Third Stream Music“ voraus.

Der Opener „A Nice Day“ beginnt mit einer Cello-Melodie, dazu entwickeln Klarinette und Gitarre notierte oder improvisierte Girlanden, dann kommt der Swing dazu, dann folgt eine Barock-Etüde mit Becken – es ist wie eine dichte Reihung von Variationen zwischen Jazz und Klassik, kompakt in drei Minuten. In ihrer Version von „My Funny Valentine“ (einem „Hit“ des Mulligan-Baker-Quartetts) wollten die Bandmusiker sogar Anklänge an die Musik von Delius hören. Anderes geht Richtung Riff-Swing à la Count Basie („I Want To Be Happy“) oder Richtung Orient („Blue Sands“) – nachfolgende Alben der Band hießen sogar „Zen“ oder „Gongs East“. (Fred Katz wurde später Professor für Musikethnologie.)

Auf der B-Seite hört man das Chico Hamilton Quintet zupackender und boppender. Diese vier Stücke wurden live im Jazzclub mitgeschnitten, in Harry Rubins „Strollers“ in Long Beach. Jim Hall und Buddy Collette (nun am Saxofon) improvisieren hier ausführlich, Katz spielt sein Cello überwiegend im Pizzicato, und es gibt auch einen traditionellen langsamen Blues („Walking Carson“). Bemerkenswert ist das im Konzert frei improvisierte Experimentalstück „Free Form“ mit Flöte, Klarinette, gestrichenem Cello, Paukenschlägeln usw. Da ahnt man schon, woher der kalifornische Free Jazz seine Inspiration nehmen sollte.

Der Sound der kühlen bzw. hardboppigen 1950er Jahre kam später in den 1980ern wieder groß in Mode. Ein DJ in London namens Paul Murphy, der sich gerne wie ein Cool-Jazz-Musiker gestylt hat, soll 1981 als Erster die Idee gehabt haben, das junge Tanzvolk mit alten Jazzplatten zu beschallen, sogenannten „rare grooves“. Darunter waren auch Aufnahmen von Gerry Mulligan und viele Blue-Note-Scheiben. Aus diesem Impuls entstand damals der britische „New Jazz“, der zeitweise aber nicht mehr war als ein Poptrend mit sanften Swing- oder Latin-Anklängen. Eine andere Disco-Saisonmode im London der 1980er Jahre hieß „Acid House“, benannt nach den herben Tönen eines neuen Bass-Synthesizers. Der DJ Gilles Peterson hatte dann den cleveren Einfall, die beiden In-Trends zu verbinden im sogenannten „Acid Jazz“. Und in dieser neuen Schublade hatte nun wirklich alles Platz: Pop, Funk, Soul, Disco, RnB, Jazz, Latin – Hauptsache, man konnte im Club darauf tanzen.

Auf seinem Label Talkin Loud förderte Peterson in den 1990ern auch die Formation Incognito, die daher als eine der führenden Bands des Acid Jazz galt. (Ihr Debütalbum Jazz Funk lag da schon etliche Jahre zurück.) Incognito waren aber weniger eine Band als vielmehr ein großer Pool von Musikern und Sängern. Bei der Aufnahme ihres Albums Positivity waren sie gerade zu zwölft aktiv, darunter drei Vokalstimmen und drei Bläser.

Chico Hamilton Quintet vs Incognito
Incognito: Positivity (Talkin Loud 518 260-2)

Ins Design des großen Cover-Vorbilds allerdings passten lediglich sechs der zwölf Akteure. (Die anderen sechs waren auf der Rückseite in entsprechender Weise abgebildet.) „Bluey“ Maunick, oben rechts mit Gitarre, war der Kopf von Incognito. Maysa Leak, unten in der Mitte, übernahm die meisten Lead Vocals in der Band. Die Songs des Albums bewegen sich zwischen langsamem Soul und funky Disco. Stellenweise sind durchaus virtuose Bläsersätze zu hören, etwa im Instrumentalstück „Thinking ‘Bout Tomorrow“. Auch kleine Improvisationen im (synthetischen) Orgelsound sorgen gelegentlich für einen Hauch von Jazz. Als originelle Zugabe gibt es (in einigen Editionen) eine kurze A-cappella-Version des Songs „Still A Friend Of Mine“, der auch als Single ausgekoppelt wurde.

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