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Oscar Peterson and Dizzy Gillespie

Oscar Peterson & Dizzy Gillespie

Die heimlichen Meisterwerke des Jazz, 1074

Jazz ist unübersichtliches Gelände – leicht kann man da Bedeutendes übersehen. Hans-Jürgen Schaal präsentiert unbesungene Höhepunkte der Jazzgeschichte.

Nach den musikalischen Turbulenzen und Provokationen der 1960er Jahre wünschte sich so mancher Jazzfan die gute alte Zeit zurück. 1973 entstanden in Kalifornien gleich zwei finanzstarke Labels, die den swingenden Modern Jazz, wie man ihn in den 1950er Jahren kannte, neu beleben wollten. Das eine Label – Concord – wurde von einem Jazz-Liebhaber gegründet, dem wohlhabenden Autohändler Carl Jefferson. Das andere – Pablo – war die Initiative des legendären Jazz-Impresarios Norman Granz. Der hatte sich um 1960 als „erster offizieller Millionär des Jazz“ aus der Labelarbeit erst einmal zurückgezogen – doch nun machte er den Rückzieher vom Rückzieher. Granz wünschte sich, all die swingenden Jazz-Stars, die er in den 1950er Jahren auf Verve Records produziert hatte, erneut unter Vertrag zu nehmen, darunter Ella Fitzgerald, Duke Ellington, Count Basie, Oscar Peterson und Dizzy Gillespie. Auf Pablo hat er innerhalb von 15 Jahren rund 350 Alben veröffentlicht.

Die Zeit allerdings war nicht stehen geblieben. Zu gründlich hatten Free Jazz und Jazzrock die gemütlichen Gewissheiten der 1950er Jahre erschüttert. Eine simple Rückkehr zu den Quintett- und Bigband-Formaten der Cool-Jazz-Zeit war in den offenen, experimentellen Siebzigern schwer vorstellbar. Die Produktionen für Pablo Records experimentieren daher mit neuen Jazzformaten. Auf dem ersten Pablo-Album spielt der Pianist Oscar Peterson zwar im Trio, aber ganz ohne Schlagzeug (#701). Die Sängerin Ella Fitzgerald lässt sich nur von einem Gitarristen begleiten (#702). Der Bigbandleiter Duke Ellington steigt auf eine Combo-Besetzung um (#703). Der Gitarrist Joe Pass nimmt unbegleitete Soli auf (#708). Der „Anti-Pianist“ Count Basie macht seine erste Trioplatte (#712). Herb Ellis und Joe Pass spielen elektrische Gitarrenduos (#714). Duke Ellington ist allein mit einem Bassisten zu hören (#721). Oscar Peterson und Count Basie leiten an zwei Klavieren eine gemeinsame Combo (#722).

Mit der Aufsprengung der konventionellen Bandformate erreichte die swingende Virtuosität am Instrument eine neue Freiheit. Zu einem vorläufigen Höhepunkt kam es dabei Ende November 1974: Oscar Peterson, der ungekrönte König pianistischer Fingertechnik, und Dizzy Gillespie, der einstige Revolutionär des Trompetenspiels, nahmen in London für Pablo ein pures Duo-Album auf.

Oscar Peterson and Dizzy Gillespie

(Peterson war damals in Ronnie Scotts Club engagiert, Gillespie kam mit eigenem Quintett auf Europatour nach London.) Diese reine Duo-Besetzung wäre in den 1950ern undenkbar gewesen, zumindest auf Albumlänge. Man spielte acht Stücke: zwei Gillespie-Klassiker („Dizzy Atmosphere“, „Con Alma“), vier Standards und zwei improvisierte Blues („Mozambique“, „Blues For Bird“) – mehr als 50 Minuten Musik. Der Aufbau der Stücke ist dabei fast immer derselbe: Das Klavier leitet ein, die Trompete führt im Thema und spielt die erste Improvisation, das Klavier übernimmt dann solo, bis die Trompete zurückkehrt zu Improvisation und Reprise. In sechs der acht Stücke beginnt Gillespie mit Dämpfer und kehrt nach dem Piano-Mittelteil mit offener Trompete wieder.

Peterson, bei der Aufnahme 49 Jahre alt, agiert hier am Klavier wie ein ganzes Orchester. Diese perlende, strömende, sprühende Vielseitigkeit – bis hin zu Stride und Boogie – ist eine Sternstunde spontaner Kreativität. Und Gillespie swingt und boppt nicht nur – seine Trompete wirft Klangbänder, Klangblitze, Klangschlieren. Im Austausch der beiden explodiert eine überlegene Virtuosität, wie man sie in harmonisch definierten Jazzchorussen bis dahin nicht gekannt hatte. Der Londoner Duo-Gipfel war so überzeugend, dass der Produzent eine ganze Plattenserie daraus machte: Oscar Peterson im Duo mit den besten Trompetern.

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