Der verschwundene Trompeter – Tommy Turrentine
Er gehörte zu den profiliertesten Bläsern im Übergang vom Hardbop zum Souljazz. Zwischen 1959 und 1963 wirkte Tommy Turrentine (1928–1997) in prägender Rolle auf mindestens 20 Platten mit. Doch plötzlich beendete er seine Karriere.
Er hatte diesen kraftvollen, fetten Ton in allen Registern – aber eben auch ganz individuelle, fast „lyrische“ Phrasierungsideen. Der Kritiker Nat Hentoff hörte bei Turrentine den Einfluss der Trompeterkollegen Dizzy Gillespie, Charlie Shavers und Kenny Dorham. Für Joe Goldberg stand Turrentine dagegen mehr in der Clifford-Brown-Richtung. Und der Saxofonist Archie Shepp schrieb, in einem bestimmten Timbre sei nur Fats Navarro mit ihm zu vergleichen. Kurzum: Turrentine spielte in der obersten Trompeter-Liga. Der Pianist Sonny Clark, der Saxofonist Booker Ervin, der Orgelspieler John Patton – sie alle holten Tommy Turrentine als Sideman ins Studio.
Seine technische Ausbildung hatte er sich in jahrelanger Praxis erarbeitet – bei Bigbands (Count Basie, Dizzy Gillespie u. a.) und Bluesbands (Earl Bostic, Lowell Fulson u. a.). 1958 schließlich kam er in die viel beachtete Hardbop-Combo von Max Roach. Dort bildete er zusammen mit seinem älteren Bruder Stanley Turrentine (Tenorsax) und dem Posaunisten Julian Priester die dreiköpfige Bläsersektion. Diese Band machte mehrere Platten (Moon Faced And Starry Eyes, Parisian Sketches, As Quiet As It’s Kept) und begleitete gelegentlich auch die Sängerin Abbey Lincoln, die damals mit Max Roach liiert war. Die beiden Turrentine-Brüder waren ohnehin ein gutes Team. Man hörte sie zusammen auch auf Stanleys Alben (Comin’ Your Way, Jubilee Shout) oder in der Band des Pianisten Horace Parlan (Speakin’ My Piece, On The Spur Of The Moment).
Seine einzige eigene Platte machte der Trompeter im Jahr 1960 – sie trägt einfach nur seinen Namen: Tommy Turrentine (Time Records). Die Band, mit der er hier arbeitet, ist das gut eingespielte Max-Roach-Quintett – plus Horace Parlan am Piano. Fünf der sieben Stücke stammen von Turrentine selbst, der Schwerpunkt liegt beim Blues. „Too Clean“ ist ein kompakter Uptempo-Blues, „Time’s Up“ ein 24-taktiger Walzer-Blues. Im ungewöhnlichen 5/4-Takt steht der Blues „Long As You’re Living“, an dem auch Julian Priester mitschrieb – das Stück wurde Turrentines bekannteste Komposition und stand jahrelang auch im Programm von Max Roach. Denn für Roach, der um 1960 eifrig mit ungeraden Metren experimentierte, war dieser Blues eigentlich geschrieben. Und für Abbey Lincoln wurde die Nummer dann auch noch betextet – durch Oscar Brown Jr. (Zuvor hatte Turrentine den 5/4-Takt bereits in seinem Stück „Un Nouveau Complet“ erprobt, dort mit Wechseln in den 3/4- und 4/4-Takt.)
Der starke Sound, die unkonventionellen Ideen und die sichere Intonation – Tommy Turrentines Trompete passte auch zu den Pionieren des Neuen Jazz. Bei Ahmad Abdul-Malik kurvt Turrentine geschmackvoll durch orientalische Skalen (1961). Bei Archie Shepp übernimmt er die Kopfstimme im Free-Jazz-Ensemble (1966). Auch der laut und aggressiv tönende Altsaxofonist Jackie McLean brachte in den 1960er Jahren den neuen, freien Jazz gerne portionsweise in seine Musik. Auf dem Album A Fickle Sonance (Blue Note) bildet Tommy Turrentine den gleichwertig glänzenden Bläserpartner. Besonders in „Five Will Get You Ten“ (von Sonny Clark) und im Titelstück bröckeln die stilistischen Grenzen. Im Stück „Subdued“ hört man Turrentine auch einmal höchst elegant mit Dämpfer. Sein eigener Songbeitrag heißt „Enitnerrut“ – das ist einfach sein Nachname, rückwärts gelesen.
Lou Donaldson, ebenfalls Altsaxofonist, machte damals den Schritt vom Hardbop in den modischen Souljazz. Auf seinem 1962er Album The Natural Soul (Blue Note) liefern nicht mehr Klavier und Kontrabass, sondern elektrische Gitarre und elektrische Orgel die harmonische Basis. Tommy Turrentine, Donaldsons Trompeten-Pendant, scheint in den zupackenden Souljazz-Shuffles immer genau das Wesentliche zu treffen („Funky Mama“, „Spaceman Twist“). Auch seine Bopläufe zeigen eine grandiose Souveränität wie selten („Love Walked In“, „Sow Belly Blues“). Doch bald nach dieser Aufnahme wurde es plötzlich ruhig um Tommy Turrentine. Es hieß, gesundheitliche Probleme zwängen ihn zum Rückzug vom aktiven Jazzleben. Man wusste, wo er wohnte – in New Yorks 82. Straße –, aber er tauchte kaum mehr auf. Einer der beeindruckendsten Trompeter der frühen 1960er Jahre verschwand mit Mitte 30 einfach von der Szene.