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Warum bewegt uns Musik?
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Warum bewegt uns Musik?

Fünf Antworten auf eine ewige Frage

Warum bewegt uns Musik? Fünf Antworten auf eine ewige Frage.

Wir kennen das alle: Musik kann uns manchmal zu Tränen rühren. Wenn wir bestimmte Musikstücke hören oder bestimmte Wendungen darin, bewegt uns das wie kaum etwas anderes. Manche von uns bekommen Gänsehaut oder ein Kribbeln im Bauch oder müssen laut loslachen.

Die unerklärlich starke Wirkung von Tönen hat die Menschen schon immer umgetrieben. In frühen Kulturen vermutete man hinter der Macht der Musik einen magischen Zauber – deshalb fiel sie in die Zuständigkeit des Medizinmanns, des Stammes-Schamanen. Auch die antiken Philosophen beschäftigte die Frage, warum Rhythmus und Harmonie „am tiefsten in die Seele eindringen“, so Platon, und sie „am stärksten ergreifen“. Selbst Eduard Hanslick, der berüchtigte Musik-Rationalist, der sich im 19. Jahrhundert gegen die Annahme wehrte, Musik solle Gefühle transportieren oder auslösen, wusste genau: „Keine Kunst kann so tief und scharf in unsere Seele schneiden. Die andern Künste überreden, die Musik überfällt uns. Nicht nur rascher, auch unmittelbarer und intensiver ist die Einwirkung der Töne.“

Was ist nun aber der Grund dafür? Der antike Philosoph Pythagoras glaubte ihn zu kennen. Er hatte entdeckt, dass die Saitenlängen von Tönen, die gut zusammen klingen (harmonieren), in einem einfachen ganzzahligen Verhältnis zueinander stehen (1:2, 2:3 usw.). Pythagoras wusste noch nichts von der Naturtonreihe – aber er schloss, dass das ganze Universum auf Mathematik beruhen müsse. Hören wir harmonische Musik, so meinte er, dann beginnt unsere Seele wie ein Instrument mit den Tönen mitzuschwingen: Die Musik „stimmt die Seele zur Harmonie des Weltalls“. Musikalische Wirkung als physikalisch-seelisches Resonanzphänomen gewissermaßen – so dachte sich das Pythagoras. Wir wollen versuchen, ein paar andere Antworten zu geben.

Antwort 1: Hören ist ein besonderer Sinn.

Der Hörsinn ist schneller, differenzierter, lernfähiger als jeder andere unserer Sinne. In Millionen Jahren Savannenleben war er als nächtlicher Warnsinn des Homo sapiens überlebenswichtig. Schon beim Ungeborenen ist das Gehör aktiv, etwa ab der 28. Schwangerschaftswoche. Indem wir zu hören beginnen, erfahren wir zum ersten Mal unser In-der-Welt-Sein. Bekannte Töne – vor allem die Stimme der Mutter – vermitteln uns schon im Mutterleib Geborgenheit. Da das Kind nach der Geburt nicht ständig Körperkontakt zur Mutter haben kann, wird ihre Stimme dann zum Kuschelersatz. Hören von Schallwellen ist ein Fern-Tasten. Bei Primaten bewirkt der Ruf der Mutter, dass sich dem Kind das Fell aufstellt – das ist der Gänsehauteffekt, ein Effekt von Wärme und Trost. Für die Gemeinschaft leistet Musik Ähnliches. Irgendwann nämlich wurden die menschlichen Horden so groß, dass nicht mehr jedes Mitglied jedem anderen eine Fellpflege zukommen lassen konnte („grooming“) – da übernahm das Singen die Funktion körperlicher Nähe. Wiegenlieder, sagt die Forschung, regulieren bei Säuglingen sogar den Cortisol-Spiegel. Was wir hören, „berührt“ uns wirklich.

Antwort 2: Musik stimuliert die Hormone.

Ähnlich wie beim Mikrofon werden im Innenohr Schallwellen in elektrische Impulse übersetzt. Diese Impulse erreichen praktisch alle Regionen des Gehirns. Tatsächlich ist das flexible neuronale Netzwerk im Kopf der Menschen speziell auf Musik „geeicht“ – das Gehirn hat sich dank Musik evolutionär so entwickelt, wie es heute ist. Die Nervenimpulse erreichen zum Beispiel den Hirnstamm und wirken so direkt auf Muskelreflexe, Atmung, Herzschlag, Blutdruck – Rhythmus fährt uns in die Glieder. Die Impulse aktivieren ebenso den Hippocampus, wo soziale Wohlfühlhormone produziert werden – wir verbinden mit Musik stets ein Gefühl der Gemeinschaft. Nicht zuletzt stimulieren die Impulse Regionen im Zwischenhirn, die für die Dopamin-Ausschüttung zuständig sind. Dopamin – das ist der Kitzel im Leben: Essen, Erotik, Schokolade, technisches Spielzeug (High End oder Sportwagen). Kommt Dopamin ins System, haben wir Spaß und sind lernfähig. Musik, die uns angenehm ist, setzt reihenweise Opioide und Endorphine frei. Es ist wie ein kleiner Drogenrausch – nur dass die Droge nicht übers Blut kommt, sondern übers Ohr.

Antwort 3: Musik spricht zu uns.

Unser Gehirn hat außerdem ein spezialisiertes Hörzentrum: den auditiven Cortex, die sogenannte „Hörrinde“ im Schläfenlappen des Großhirns. Dieser Hörcortex ist auf der rechten Seite mehr für Tonhöhen und Klangfarben zuständig, auf der linken dagegen für schnelle Tonfolgen und Rhythmen. Links sitzt auch das Sprachzentrum, das sich besonders gut mit schnell aufeinander folgenden Lauten auskennt. Tatsächlich werden Musik und Sprache vom Gehirn in einem gemeinsamen, untrennbaren Netzwerk verarbeitet. Evolutionsbiologen nehmen an, dass die menschliche Ursprache ohnehin ein Singsang war, eine Mixtur aus Melodie und Konsonanten. Bekannt ist auch, dass wir bei gesprochener Sprache mehr Informationen über die Sprachmelodie aufnehmen als über den Text. Umgekehrt ist unser Sprachzentrum selbst bei instrumentaler Musik immer aktiv. Es sucht in den Tönen ständig nach Syntax und Grammatik – wir glauben zu verstehen, was die Töne sagen. Wenn das Gehirn in der Musik quasi-sprachliche Muster erkennt, belohnt es sich selbst – mit Glückshormonen.

Antwort 4: Spannung macht Emotionen.

Musik steuert unsere Gefühle, verändert unsere Stimmung – das wussten schon die antiken Philosophen. Ihre Theorie war ziemlich einfach: Schnelle, bewegte Melodien machen fröhlich, langsame, absteigende Melodien machen traurig. Später wurde daraus eine detaillierte musikalische „Affektenlehre“ entwickelt. Heute tendieren Musikpsychologen eher zu einer Art „Persona“-Theorie. Ihr zufolge verstehen wir Hörer ein Musikstück als die emotionale Geschichte einer fiktiven Person, in die wir uns einfühlen. Die Hirnforscher wiederum erklären unsere emotionale Beteiligung ganz mit der „Spannung“ beim Musikhören. Demnach treffen wir ständig unbewusst Voraussagen über den Fortgang der Musik. Diese Erwartungen werden entweder erfüllt oder aber von Überraschungen durchkreuzt – beides führt zu emotionalen Sensationen. Die Gefühle stecken nicht in der Musik, sondern wir produzieren sie beim Hören im Gehirn.

Antwort 5: Unsere Biografie hört mit.

Häufig sind es vertraute Musikstücke, die uns besonders bewegen. So wie ein bestimmter Geruch oder eine bestimmte Fotografie klare oder mysteriöse Erinnerungen wachrufen kann, „rührt“ ein Musikstück an Erlebtes und Vergangenes. Jeder Mensch trägt in seinem Gehirn sein persönliches Netzwerk von Erlebnissen und Erfahrungen mit sich herum. Letztlich ist die individuelle Struktur des Gehirns ohnehin nichts anderes als das Resultat einer Biografie. Denn Tätigkeiten, die häufig ausgeübt werden, führen zu besonderen neuronalen Verdichtungen und Schaltungen im Gehirn. Eine starke Reaktion auf Musik kann also einfach biografische Gründe haben. Wir verbinden – bewusst oder unbewusst – mit einer Melodie, einer Gesangsstimme, einem instrumentalen Klang, einem Harmoniewechsel usw. eine bestimmte Erinnerung oder Erfahrung. Deshalb bewerten wir Musikstücke häufig sehr verschieden. Übrigens können die emotionalen Assoziationen auch negativ sein. Manche Menschen können manche Musik einfach nicht ausstehen.

Hans-Jürgen Schal schreibt seit vielen Jahren über Themen aus der Musikpsychologie und Musikneurologie, zuletzt z. B. über „Musik im Gehirn“, „Musik und Motivation“, „Musik als ethisches Modell“.

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