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Anita O'Day, Anita Sings The Most
Anita O'Day with the Oscar Petersen Quartet

Die heimlichen Meisterwerke des Jazz – Anita Sings The Most (1957)

Die heimlichen Meisterwerke des Jazz – Anita Sings The Most (1957)

Der Jazz ist vielgestaltiges Gelände, da hält man sich gern an sicheren Wegmarken fest, an „Kind Of Blue“ und „Saxophone Colossus“. Doch leicht könnte man dabei Gewaltiges verpassen. Hans-Jürgen Schaal präsentiert unbesungene Höhepunkte der Jazzgeschichte.

Dass ich ein Freund von Jazzsängerinnen wäre, kann man nun wirklich nicht sagen. Doch es gibt da schwer wiegende Ausnahmen. Anita O’Day zum Beispiel war nicht einfach eine Sängerin. Sie war eine Jazzsolistin, die sich der Stimme bediente – und das nicht nur wie eines Instruments. Sie nutzte Ausdrucksnuancen, Wortbedeutungen, die Zwischenlagen von Intonation und Semantik. Anita O’Day klang burschikos oder flirty, nüchtern-kühl oder erotisch heiser. Ihre Stimme konnte dünn und sandig werden. Oder zupackend und sachlich.

Amerikanisch war ihre Sprache. Das hatte sie schon mal all den deutschen und skandinavischen Trällerlieschen voraus, die heutzutage bereits an einer sinngebenden Intonation des Englischen scheitern. Und vielen ihrer singenden Landsfrauen von heute hatte sie voraus, dass sie einfach nicht langweilig sein konnte. Anita O’Day trug die Melodien so sicher in sich, dass sie mit ihnen alles anstellen durfte, was ihr nur einfiel. Sie stauchte sie gegen den Beat, lachte sie chromatisch zu Ende, riss sie mit Tempowechseln auseinander. Gleich zu Beginn packt sie zwei Gershwin-Melodien in ein Stück – die eine viermal so schnell wie die andere. In „Love Me Or Leave Me“ verlängert sie die A-Teile ab dem zweiten Chorus von acht auf zwölf Takte. „Them There Eyes“ lässt sie im Raketentempo vorbeiflattern.

Anita O’Day war ein Swing-Phänomen, ein Rhythmus-Monster. Sie sang Litaneien im Uptempo, scattete futuristische Klangbilder oder verschleppte die Melodien ins Surreale. Sie konnte auch Balladen – und wurde dabei nie sentimental. Wahrscheinlich niemals fühlte sie sich bei ihren filigranen Jazz-Abenteuern so sicher wie hier – mit dem 30-fingrigen Oscar Peterson am Klavier und dessen feinnerviger Rhythmustruppe, der vermutlich flexibelsten Band von 1957. Da wagte sie alles und gewann. Ihre wirkliche Muttersprache war der Jazz.

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