Professor P.’s Rhythm & Soul Revue
Der Professor reist heute in die Sahara, in die Vergangenheit Vietnams, nach Paris und nach Oberbayern mit neuen Werken von Tinariwen, Wolfgang Valbrun, Saigon Soul Revival, The Sonic Brewery und Caravan Palace.
Als ich gerade die Schule verlassen hatte und dem Leben forsch ins Gesicht schaute, fand um die Ecke ein zweitägiges Weltmusikkonzert statt. Peter Gabriels WOMAD-Festival tourte damals durch die Lande und ließ sich für ein Wochenende auch im grünen Rund des Stadtparks in des Professors Heimatweiler nieder. Zwei Tage lang pilgerte ich im Auftrag eines Anzeigenblättchens, das sich keine echten Reporter leisten mochte, vor die Bühne. Ein Kulturschock, das darf ich sagen. Lange Jahre vor der vom Karma verliehenen Professorenwürde stand ich als fast jungfräulicher Groove-Novize vor den Brettern, die tatsächlich die Welt bedeuteten: Darauf musizierten hutzelgesichtige Urgroßväter in Nachthemden auf krummen Knochen. Seltsame Gitarren mit nur einer Saite schickten wundersame Töne in die Sommerluft. Ein Chor hundertjähriger bulgarischer Bauersfrauen ließ mit dissonanten Kanongesängen die alten Kastanienbäume des Parks erschauern. Über allem hing ein fremder, verführerischer Duft. Es gab afrikanische Eintöpfe, pakistanische Frittierkunst und Böklunder Bratwürstchen zu verkosten. Ja, es war ein Sommer der Verheißungen. Das Leben lag vor einem, der kulinarische wie musikalische Horizont wurde weit an jenen Tagen im Stadtpark. Bis dahin dachte ich, Toast Hawaii und das neue Album der Erste Allgemeine Verunsicherung – Liebe, Tod & Teufel – sei ungefähr das Verrückteste, was man sich zumuten konnte. Da aber kannte ich weder marokkanischen Couscoussalat mit scharfen Lammwürsten noch die Musicians of the Nile, die mit Rabbabah-Klangkörpern aus Pferdehaar, Kokosnüssen und Fischhäuten einen manisch-magischen Ägypten-Techno heraufbeschworen, sodass man sich selbst völlig nüchtern total stoned fühlte. Nun, meine Freunde, Ihr wisst: Keine der professoralen Ausflüge in die Vergangenheit – Achtung, Opa erzählt von früher! – geschieht ohne Grund. Und der lautet hier: Ich habe gerade vier Karten für ein Konzert von Tinariwen gekauft. Die Nomaden-Bluesband tritt im September in einem Juke Joint namens Elbphilharmonie auf, um die Akustik in Deutschlands teuerster Musikkneipe einmal ordentlich auf die Probe zu stellen. E-Gitarren, von den Nachfahren algerischer Nomaden gespielt, dazu Bass, Bechertrommel und perkussives Händeklatschen. Der Professor wird die Missus mitnehmen und obendrein den Nachwuchs, um im Rahmen der musikalischen Pubertätsbewältigung zu zeigen: Es gibt mehr da draußen zu entdecken als das gerade „gedroppte“ Doppelalbum von Taylor Swift. Der Wüstengroove der bereits seit vierzig Jahren aktiven Tuareg-Truppe, auf dem aktuellen Album ergänzt um Banjo, Piano und Pedal-Steel-Gitarre einiger erlesener Gastmusiker, ist ein guter Einstieg in die folgenden Ausführungen, die ja wie in jeder Ausgabe von Professor P.‘s Rhythm and Soul Revue nur eins postulieren wollen: Das Leben ist seltsam. Also lasst uns wenigstens gute Musik hören. Stay tuned.
Tinariwen – Amatssou
Finger auf der E-Gitarre, die verträumt hie und da zupfen. Die knarzige Stimme eines alten Mannes, in fremdem Zungenschlag halb singend, halb erzählend zwischen den Lautsprechern herumwehend. Dann setzt eine Djembé ein, die traditionelle Bechertrommel der Sahara-Völker: Der Rhythmus nimmt unter perkussiver Beschleunigung Fahrt auf, und mit ihm eine erstaunlich eingängige Melodie. Der Professor tanzt ein paar Schritte durch die Bude, Bilder von einst vor dem Auge, als in seinen Jugendtagen im eben erwähnten Stadtparkfestival ähnlich exotische Klänge die Sinne berauschten. Ja, das mittlerweile neunte Studioalbum der Tuareg-Band Tinariwen fängt so geheimnisvoll wie gleichermaßen zugänglich an wie die acht Alben zuvor. Eine freche Behauptung, muss ich zugeben, denn die anderen habe ich nur zwecks Rundumrecherche mal kurz diagonal gehört. Aber, Freunde, würde ich im nächsten Leben als Verstärker oder auch nur als Vor- oder Endstufe wiedergeboren: Ich würde doch stark darum bitten, die seelenwärmenden Klänge dieses Albums verstärken zu dürfen … Nun, eine spannende Produktion, und auch schon vor einem Jahr ausgewildert, da hatte der Professor etwas geschlafen. Eigentlich sollte Amatssou in Jack Whites Studio in Nashville eingespielt werden, doch letzte Corona-Verwerfungen ließen die siebenköpfige Truppe seinerzeit nicht aus Algerien ausreisen. Also wurde ein Nomadenzelt in der Wüste des Tassili-N’Ajjer-Nationalparks im Südosten des Landes aufgebaut und mit Mikrofonen bestückt. Dank an den Virus, möchte ich sagen. So entstand ein ohrenwärmender, authentischer Sound, der auch dem Professor das Gefühl vermittelt, mit verschränkten Beinen auf einem sandigen Teppich in der Sahelzone zu sitzen und diesem zugleich faszinierend fremd und vertraut klingenden Studiokonzert beizuwohnen. Als Gastmusiker sind Daniel Lanois, Fats Kaplin und Wes Corbett aus den USA dabei, was einen wahrhaftigen Wüstensoul ergibt, der zwischen Afro-Beat und Mississippi-Blues mäandert. Lanois, als Produzent ausgezeichnet für seine Arbeit an unter anderem The Yoshua Tree von U2 und Time Out Of Mind von Bob Dylan, spielt eine schüchterne Pedal-Steel-Gitarre. Corbett, bis vor kurzem Professor für Banjospiel am berühmten Berklee College of Music in Boston, steuert Nashville-Country-Sounds bei und Kaplin seine international gerühmte Cajun-Geige. Das ergibt leicht rumpelnde, bisweilen fragil klingende und magisch in flirrender Wüstenhitze wabernde Grooves. Well, listen!
Label: Wedge/Rough Trade
Format: CD, LP, DL 24/44
Wolfgang Valbrun – Flawed By Design
Beim FC St. Pauli lief einige Jahre lang der Spieler Sobota auf, ein polnischer Fußballer mit schönem Vornamen: Waldemar. Ein Name, der Assoziationen von ausgebeulten Kordhosen, braunen Sofabezügen und Käseigel mit Weizenbier auslöst. Und ein wohltuender Ausgleich zu all den Kevins, Diegos und Finn-Oles, die nicht nur die Fußballplätze der Gegenwart bevölkern. Ähnlich ergeht es mir beim Vornamen Wolfgang, der spontan einen Bildbogen von Erdkundelehrern, Strickpullundern und Kombi-Passats vorm inneren Auge vorbeiziehen lässt. Aber, wie wir audiophilen Menschen sowie alle Feuerwehrleute wissen: Namen sind Schall und Rauch. Denn Wolfgang Valbrun trägt statt Wollpullunder engest geschnittene T-Shirts beziehungsweise bei Konzerten auch oft gar nichts auf dem in vermutlich vielen, vielen Fitnessstunden geformten Body. Seiner breiten Brust entfliehen auch keine Erläuterungen zur Topografie der mongolischen Steppenlandschaft, sondern extremst energiegeladene Soulsongs. Gerade erst hat der langjährige Sänger und Lidschattenträger der britischen Experimental-Funk-Band Ephemerals sein Solodebüt veröffentlicht, und das möchte der Professor gerne weiterempfehlen: Als grandioses Neo-Soul-Werk sowie als Hoffnungsbeleg für alle Wolfgangs der Welt, dass man dem Klischee-Kanon seines Vornamens durchaus entwachsen kann. Valbrun, Wahl-Pariser aus New York, der jahrelang auch für andere komponierte (etwa für den französischen Trip-Hop-Pionier GUTS) und sang (unter anderem auf Tour mit dem niederländischen Duo Kraak & Smaak), genießt ganz offenbar die neue Selbstbestimmtheit. Die zwölf frontal-fett produzierten, Cinemascope-breiten Songs auf Flawed By Design vibrieren vor Energie. Ihr müsst also nicht denken, Freunde, die Boxen stünden nicht mehr fest verankert im Fischgrätparkett Eurer High-End-Lofts. Hier mischen sich die verschiedenen Facetten des Neo-Souls, vom modern arrangierten Vintage-Soul der Black Panthers über den energiegeladenen Gospelfunk von Robert Randolph bis hin zu Daptoneschen Winehouse-Grooves aus Brooklyn. Hört mal hier herein: „Love Yourself“ (schleppende Uptempo-Ballade mit schönem Retro-Barrelhouse-Piano, stampfendem Bassdrum-Duo und wohlplatziertem Gospel-Backgroundchor), „Baptiste“ (Soulsong über Nächte in Pariser Bars, unterlegt mit einem groovenden Trauermarsch aus New Orleans) und „Keep Your Head Up“ (von Blues und Funk durchsetzter Gospelsoul, der vor allem eins schafft: den Professor um den Schreibtisch tanzen zu lassen!).
Label: Jalapeno Records
Format: CD, LP, DL 24/48
Saigon Soul Revival – Mối Lương Duyên
Zunächst einmal: Entschuldigung an FIDELITY-Textchefin Helene. Jetzt kommt eine kniffelige Aufgabe, denn die Buchstaben des vietnamesischen Alphabets sind nicht ganz so leicht zu finden im Textverarbeitungsprogramm. Das sieht man schon am Namen des Alphabets, Chữ Quốc Ngữ, der so viel bedeutet wie „Schrift der Landessprache“. Fast jeder Buchstabe des ursprünglich lateinischen Alphabets ist mit einem sogenannten Diakritikon geschmückt, also mit Häkchen, Strichlein, Pünktchen und/oder Schnörkelchen. Die aber benötige ich heute, um zum Beispiel über „Ai Thật Lòng Yêu Ai“ zu schreiben, den Intro-Song auf Mối Lương Duyên, der zweiten Platte von Saigon Soul Revival aus Ho-Chi-Minh-Stadt, ehedem Saigon. Die Band werdet Ihr, verehrter Lesezirkel, womöglich nicht kennen, ging mir bis vorgestern auch so. Das Quintett um Sängerin Nguyễn Anh Minh ist bis vor kurzem für eine Handvoll Đồng ausschließlich in Vietnam aufgetreten. Erst vergangenes Jahr waren sie erstmals außerhalb ihrer Heimat für eine Handvoll Konzerte auf Tour. 2019 bereits wurde das Debüt Hoa Am Xua veröffentlicht auf dem deutschen Label Saigon Supersound: ein wahnwitziges Werk, das agilen Stax-Soul mit asiatischer Liebesliedromantik eint und E-Gitarren wie Funk-Orgel gemeinsam swingen lässt mit traditionellen vietnamesischen Zupfinstrumenten – Achtung, professoraler Bildungsauftrag! – wie der großen Wölbbrettzither Đàn Tranh, der Kastenzither Đàn Bầu und der Banjo-artigen Volksmusiklaute Đàn Nguyệt. Saigon Soul Revival hat es sich, so lerne ich auf der Bandcamp-Webseite der Gruppe, zur Aufgabe gemacht, „den rauen Live-Sound der vietnamesischen Rock- und Soulmusik der 1960er und 70er Jahre wieder aufleben zu lassen“. Nun, über jenes Kapitel der globalen Soul-Historie weiß ich zugegebenermaßen nichts, aber dies hier schon: Psychedelisch durchdrungene Soulsounds, gemischt mit zuckersüß anmutenden Klängen, die als Hintergrundmusik im vietnamesischen Frisörsalon laufen könnten – das funktioniert erstaunlich gut. Zum Einstieg ins zweite Album empfiehlt der Professor „Ai Thật Lòng Yêu Ai“ (Midtempo-Soul als Intro in das Album, der unter Mitwirkung traditioneller Zitherklänge die Richtung für ein grandioses Werk vorgibt. Nguyễn Anh Minh singt dabei so klar und frisch wie ein blauer Morgen am Mekong nach dem Monsun) und „Có Mấy Ai Được Vui“ (erst ein Gitarrenintro, so schrammelig wie bei den Black Keys, dann Funk-Gitarren und Second-Line-Drumming mit der Wucht eines cholesterinhaltigen Southern-Rock-Songs, schlichtweg genial).
Label: Jalapeno Records
Format: CD, LP, DL 24/44
The Sonic Brewery – Can’t Kill Rock’n’Roll
Jetzt wird’s noch exotischer, Freunde. Nachdem wir schon durch die Sahara sowie durchs Saigon der siebziger Jahre gereist sind, geht es nun in die Sahelzone Oberbayerns, in den 20-Seelen-Weiler Kaspersbach in der Nähe von Burghausen. Hier entdeckte Benno Olbrich, dass er singen kann wie Chris Cornell, lernte den Rock’n’Roll lieben und traf in umliegenden Dörfern auf Gleichgesinnte. Man gründete The Sonic Brewery und veröffentlichte 2019 – zufällig zeitgleich übrigens mit Saigon Soul Revival – das Plattendebüt Catch The Magic. Der abgegriffene Albumtitel aber trifft den Kagel auf den Hopf – Ihr seht, ich bin so begeistert, dass ich mich glatt im deutschen Alphabet verirre. Jetzt liegt bereits das zweite Album in des Professors CD-Laufwerk, und auch der wieder überaus kreative Titel Can’t Kill Rock’n’Roll soll uns nicht in die Irre leiten, denn das Werk ist gut. Das Quartett fand sich in Salzburg im Studio ein, und unter Regie des langjährigen Produzenten von Hubert von Goisern, Wolfgang Spannberger, spielte man alle Songs live und mit voller Wucht, mischte Stoner Rock mit Psychedelic Blues, Rock’n’Roll mit indischen Sitarklängen. Hört hier herein: „Can’t Kill Rock’n’Roll“ (der Titelsong verbindet Breitwandrock und Soundgarden-Soundkulisse mit einem seltsamen Sitar-Solo), „Don’t Wanna Die“ (klingt, als hätten sich AC/DC, Metallica und Brant Björk zu einem Wumms-Workshop in Oberbayern getroffen) und „Bad Guy“ (schwergewichtiger Blues mit orange klingenden 70s-Gitarren, klagender Mundharmonika und einem schön verschleppten Rhythmus – wie ein Almabtrieb bei Gewitter, aber in Zeitlupe).
Label: Sun King Music
Format: CD, LP, DL 24/48
Caravan Palace – Gangbusters Melody Club
Ach ja, wer kennt das nicht aus frühen Jugendtagen in der Diskothek, da man sich nicht recht auf die Tanzfläche traute: Beim nächsten guten Song … Nun, Freunde, dieser Song ist spätestens jetzt da. Schüttelt die Schüchternheit aus den Beinen und steuert den Song „Reverse“ vom neuen Album von Caravan Palace an, Gangbusters Melody Club. Bewegt die alten Knochen runter vom Sofa, auch wenn der Hörgenuss dadurch nicht hundertprozentig akustisch ausgependelt sein sollte, personne n’est parfait. Die Band aus Paris, eigentlich ein DJ-Duo samt verschiedenster Instrumente und Sängerin, produziert und spielt seit nunmehr 15 Jahren druckvollsten Dancefloor Soul, gehaltvoll wie ein Cassoulet-Eintopf und mit mindestens ebenso vielen Zutaten. Die Grenzen des Genres Electroswing haben Caravan Palace dabei lange hinter sich gelassen. Samples der zwanziger und dreißiger Jahre werden auch auf dem neuen, fünften Album nicht nur von Saxofon- und Klarinettenklängen und von real gespieltem Bass und ebensolcher Gitarre vorangetrieben, sondern auch mit dekonstruierender Rhythmik und ultraschnellen Bitch-Rap-Kaskaden zu einer unbedingt tanzbaren Multisoundmischung zusammengebastelt. Vor allem auch live sollen Caravan Palace, die mit Milliarden von Streams und vor allem bei TikTok eine junge Fangemeinde für postmodernen Swing begeistert, für echte Erweckungserlebnisse sorgen. Wie schön also, dass die französische Club-Combo im Herbst auf Deutschlandtour kommt. Bis es so weit ist, hört hier hin: „Mirrows“ (präziser Bass, scharfe Laptop-Drums, schneller Erzählgesang, Housemusik, Jazzfragmente, arabische Klänge … tres bien!), „Fool“ (komplexe Rhythmik, altes Piano, ein eventuell rückwärts gespielter Bass: ein alter Blues der mittlerweile 80-jährigen Sängerin Ella Washington – die sich übrigens bereits in den 70er Jahren vom Musik-Business verabschiedete, um als Pastorin in einer Kirche in der Kleinstadt Opa-locka in Florida den Gospel zu predigen – wird hier zum fetten Club-Hit) und eben „Reverse“ (Daft Punk goes twenties: Schneller, heißer Disco-Funk – wer hier nicht tanzt, liegt vermutlich bereits im Souterrain bei den Radieschen).
Label: Lone Diggers
Format: CD, LP, DL 24/44