TANZ, PONY, TANZ!
Seit Beginn der Corona-Zeiten radele ich morgens mit dem Fahrrad zur Arbeit.
Mittlerweile ja nicht mehr aus Virenschutzgründen. Nein, ich mache das gerne. Ich frage mich, warum ich mich überhaupt jemals in vollgepackte S-Bahnen gezwängt habe, in denen man die Sauerstoffatome an einer Hand abzählen kann und an deren Fenstern im Herbst und Winter das Kondenswasser nasser Jacken und hustender Menschen herunterläuft. Ich fahre bei jedem Wetter und natürlich ohne Elektromotor – das Ü-50-Bäuchlein hat sich in Wohlgefallen aufgelöst. Was ich nicht mache, das ist Musik beim Fahrradfahren hören. Dafür habe ich mich zu oft im toten Winkel eines Lkw oder im Fadenkreuz eines jagenden SUV befunden. Eine Stimme in mir sagt: Die halbe Stunde in der Kakofonie der innerstädtischen Rushhour ist nicht die Zeit, in der wir Bob Dylan hören wollen. Da ich vor einem Jahr tatsächlich über die Haube eines Sportwagens flog und mit viel Glück nur eine Zerrung in der Schulter sowie viel Schriftverkehr mit der Versicherung zu beklagen hatte, höre ich auf die Stimme.
Und das ist gut so. Denn diese Stimme sagte mir neulich: Halt mal an. Kauf dir da drüben einen Kaffee, setz dich auf den Klappstuhl vor dem Kiosk und beobachte das Geschehen auf der anderen Straßenseite. Das tat ich. Drüben hockte ein alter Mann auf dem Gehweg. Den sehe ich dort im Vorbeifahren jeden zweiten Tag. Ein schlaksiger Typ, vermutlich zwischen 70 und 80 Jahre alt, ZZ-Top-Zottelbart im Gesicht und ein Rollator neben sich geparkt. Er sitzt meist auf den Knien, wie ein Mädchen im Vorschulalter, und malt mit Kinderstraßenkreide seltsame Wesen auf die Fußwegplatten. Lachende Mondgesichter, Ponys mit acht Beinen, grinsende Monster und jede Menge bunte Vögel. Dabei hört der Mann Musik: Er hat einen für seine Größe erstaunlich dünn scheppernden Ghettoblaster an seiner Seite. Der Mann hört Hardcore-Rap. Richtig toughes Zeug, das durch die offenbar durchgeknallten Boxen geblasen noch eine Extraportion Street Credibility bekommt. Aber er ist glücklich, denke ich zumindest. In seinem Bart hat sich ein Dauerlächeln verfangen. Und er groovt. Wirft die Arme in die Luft, zappelt mit den zusammengefalteten Beinen und sieht, stets von einem feinen Kreidenebel umwölkt, sehr in seinem Element aus.
Wenige Tage danach war ich auf einem Konzert, zu dem mich ein Freund überredet hatte: Zwei Rapperinnen traten auf der kleinen Bühne eines im Hamburger Hafen vertäuten ehemaligen Kühlschiffes der Rostocker Hochseefischfangflotte auf. Skuff Barbie aus Münster sowie Aunty Rayzor aus Nigeria. Der Freund, sonst eher in Richtung Punk ausgependelt, war vergangenes Jahr bei einem Musikfestival in Uganda just beim Auftritt von Aunty Rayzor in Ohnmacht gefallen. Er hatte also etwas in Sachen Konzert-Karma gutzumachen und daher also mich mit ins alte Schiff geschleppt. Nun, was soll ich sagen. Der Skeptiker und Bob Dylan schätzende Snobist in mir verabschiedete sich nach dem ersten Song. 20 Zuschauer waren wir nur. Wir tanzten, als gäbe es kein Gestern und kein Morgen. „Ihr seid eine echt nice Crowd!“, ließ uns Skuff Barbie wissen. „So cute!“ Bei Aunty Rayzor dann gab es kein Halten mehr. Die cute Crowd bouncte mit den Hüften zu Afrobeats und harten Punchlines. Ich schloss die Augen und ließ mir die Grooves in die Beine fahren. Ich sah, obwohl nur mit einer Cola im Blut, seltsame Wesen durch den Raum fliegen. Ein Pony mit acht Beinen und viele, viele bunte Vögel.
PS: Unnützes Wissen, Teil 39:
In Uganda wird jedes Jahr im November das Musikfestival „Nyege Nyege“ veranstaltet, begründet von einem Belgier und einem Griechen, um lokalen Talenten eine Bühne zu geben. Zum Kosmos gehören die beiden Independent-Label Nyege Tapes und Hakuna Kuala sowie eine Bookingagentur, die Auftritte der bisher unbekannten afrikanischen Künstler in Europa vermittelt – darunter zum Beispiel auch Aunty Rayzor. Wer mehr darüber erfahren mag: Auf der Homepage des Wirtschaftsmagazins Brand Eins ist eine wunderbare Reportage über das Festival, seine Künstler und Macher zu lesen.
PPS: „Nyege Nyege“ ist übrigens ein geflügeltes Wort auf Luganda, einer der Landessprachen Ugandas. Es bedeutet so viel wie „unzähmbarer Drang zu tanzen“.