Bruce Liu und Nicolas Hodges – Klavier kontrovers
Die Klaviermusik bietet einen unerschöpflichen Schatz an Ausdrucksmöglichkeiten, die sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt haben.
Besonders eindrucksvoll wird dies in zwei aktuellen Aufnahmen deutlich, die auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein könnten. Während Bruce Liu sich mit Tschaikowskys Jahreszeiten-Zyklus auf die poetisch-intime Klangwelt des 19. Jahrhunderts konzentriert, führt Nicolas Hodges mit seinem Album zeitgenössische Werke aus dem 20. und 21. Jahrhundert vor, die mit Klangexperimenten und interpretatorischer Freiheit den Hörer herausfordern. Beide Alben eröffnen Einblicke in die jeweilige musikalische Epoche und zeigen auf, wie unterschiedlich Pianisten sich der Klaviermusik nähern können.
Die intime Klangwelt des 19. Jahrhunderts: Bruce Liu mit The Seasons
Bruce Liu widmet sich auf seinem zweiten Album für die Deutsche Grammophon dem oft unterschätzten Tschaikowsky als Komponisten für Soloklavier. In dessen meist sträflich vernachlässigten Jahreszeiten gelingt ihm eine nuancierte, die zarten und poetischen Facetten dieser Musik betonende Interpretation. Liu versteht es, die Balance zwischen programmatischer und absoluter Musik zu wahren und die Monatsbilder als fein ausgearbeitete Klangminiaturen darzustellen. Seine technische Perfektion geht dabei Hand in Hand mit einem emotionalen Zugang, der den Hörer einlädt, sich auf die stillen Momente dieser Werke einzulassen.
Vor allem beeindruckt Lius Fähigkeit, die durchaus auch volkstümlich inspirierten Stücke Tschaikowskys so zu musizieren, dass sie ihre Intimität bewahren und dennoch ein farbiges und viriles Eigenleben entwickeln. Seine Interpretation bleibt dabei immer authentisch und lässt Tschaikowskys klangliche Welt in all ihren Facetten leuchten. Der Kontrast zwischen den feierlichen, manchmal auch tänzerischen Passagen und den introspektiven Momenten schafft ein sowohl emotionales als auch intellektuelles Spannungsfeld, das in der gesamten Aufnahme präsent ist. Hier wird Tschaikowsky als Komponist erlebbar, der mit feinem Gespür für Tiefe auch kleiner kompositorischer Formen Musik schreibt, die das Publikum still und nachdenklich zurücklässt. Ein unbedingter Pluspunkt ist die Klangqualität der Aufnahme, die mit einer wunderbaren Natürlichkeit aufwartet. Und was besonders erfreulich ist: Die Vinylveröffentlichung zeugt von einer hohen und heute leider nicht mehr alltäglichen Fertigungsqualität.
Die Klangexperimente der Moderne: Nicolas Hodges mit zeitgenössischer Klaviermusik
Ganz anders nähert sich Nicolas Hodges der Klaviermusik, die er auf seinem neuen Album präsentiert. Werke von Komponisten wie André Boucourechliev, Rebecca Saunders und Rolf Riehm stellen hier höchste Anforderungen an Interpreten und Hörer. Bei dieser Musik ist nicht nur technisches Können gefragt, sondern auch die Bereitschaft, sich auf die radikalen Klangideen der Moderne einzulassen. Zu verdanken ist diese 25. Produktion des formidablen und experimentierfreudigen Berliner Labels bastille musique im Nachhinein der Coronapandemie – ein abgesagtes Livekonzert wurde flugs in das Aufnahmestudio umdisponiert, und das Ergebnis kann man nun zwei Jahre später goutieren.
Boucourechlievs Archipels ist ein Paradebeispiel dafür, wie die Freiheit des Interpreten in der modernen Musik zum zentralen Gestaltungsmoment wird. Hodges nutzt diesen kreativen Freiraum, um mit den einzelnen Bausteinen der Partitur ein klangliches Erlebnis zu schaffen, das bei jeder der drei aufgenommenen Versionen neue Aspekte offenbart. Auch Saunders’ To an Utterance fordert den Pianisten mit seiner unbändigen Energie und ungewöhnlichen Klangeffekten heraus. Wilde Glissandi und perkussive Schläge lassen das Klavier hier zwischen Harfe und Schlagzeug mäandern und führen an die Grenzen des technisch Machbaren. Hodges begegnet diesen Herausforderungen nicht nur mit handwerklicher Brillanz, sondern auch mit seiner Fähigkeit, aus abstrakten Klangideen lebendige musikalische Erlebnisse zu formen, die auch den unbedarften Hörer zu fesseln vermögen. Als besondere Stärke von Hodges zeigt sich, dass er selbst scheinbar disparaten Klangelementen eine innere Logik zu verleihen vermag. In Riehms Ciao, carissimo Claudio – einer klangmalerischen Hommage an Venedig – gelingt ihm dies auf eindrucksvolle Weise. Die Verschmelzung von Monteverdis Madrigalen, den exotischen Klängen von Steeldrums und elektronischen Zuspielungen wirkt bei ihm weder willkürlich noch überladen, sondern formt sich zu einem klanglichen Panorama voller Atmosphäre und emotionaler Intensität. Wie immer überwältigt auch hier das Label den Hörer mit einem umfangreichen instruktiven Booklet und einer wunderbaren Box inklusiv diverser Fotodrucke. Ein Plädoyer für die CD als hochwertiger Tonträger.
Die beiden Alben könnten kaum unterschiedlicher sein, und doch ergänzen sie sich in ihrer Gegenüberstellung auf faszinierende Weise. Liu verkörpert die kontemplative und strukturelle Schönheit der romantischen Klaviermusik, die durch ihre poetische Intimität besticht. Hodges hingegen steht für die Abenteuerlust und Offenheit der Moderne, die mit neuen Klangräumen und interpretatorischer Freiheit experimentiert. Beide Pianisten demonstrieren, dass das Klavier sowohl ein Medium leiser, introspektiver Momente als auch eine Plattform für radikale klangliche Innovationen sein kann. Ein Dialog zwischen Tradition und Moderne, der die Vielseitigkeit des Instruments in den Fokus rückt.
Peter Tschaikowsky – Die Jahreszeiten
Bruce Liu
Label: Deutsche Grammophon
Format: CD, LP, DL 24/192
Saunders, Riehm, Boucourechliev – Archipels
Nicolas Hodges
Label: bastille musique
Format: CD, DL 16/44